piwik no script img

Goldberg-Variationen, die fünfte

Mit siebzehn fiel sie beim Studium einer Bach-Partitur in Ohnmacht. Als sie wieder zu sich kam, so die Legende, hatte sie tiefere Einblicke in Wesen und Struktur seiner Musik empfangen. Seither hat sich die amerikanische Pianistin Rosalyn Tureck dem Werk des deutschen Barockmeisters verschrieben. Mit großem Erfolg. Ein US-Kritiker nannte sie die Hohepriesterin Bachs, auf Glenn Gould übte ihr Spiel prägenden Einfluß aus. In Deutschland allerdings wird die Tureck erst jetzt, im Alter von 84 Jahren, endeckt. Ihre Neueinspielung von Bachs „Goldberg-Variationen“ begeistert die Kritiker. Ein Porträt  ■ von Frank Siebert

Bereits der erste Klavierton läßt einen den Atem anhalten: Wie aus dem Nichts erklingt ein G, zart und doch voll konzentrierter Schönheit, darauf folgend noch mal das G, diesmal aber von ganz anderem Charakter, ein behutsam antwortendes Echo. Ein Gespräch wird hier geführt, seltsam feierlich und ernst, eine Konversation, an der der Zuhörer auf wundersame Weise teilnimmt. In ihrem 84. Lebensjahr hat Rosalyn Tureck Bachs „Goldberg-Variationen“ neu eingespielt und legt damit das Opus magnum ihrer mehr als sechzigjährigen Karriere vor. Sprühend vor Charme, Vitalität und Tatendrang.

Kein Zweifel: Wer Bachs einleitende Aria der „Goldberg-Variationen“ so illuminierend zu spielen versteht, weiß mehr von Bach, hat einen tieferen Einblick in die Stukturen seiner Musik und deren geistige Konzeption als die meisten, die sich an dem monumentalen Variationswerk versucht haben. Als Siebzehnjährige, so zumindest will es die Legende, verlor Rosalyn Tureck während des Studiums an einem komplizierten Bach-Werk das Bewußtsein. Als sie wieder zu sich kam, hatte sie einen fundamentalen Einblick gewonnen „in Bachs Aufbau, seine musikalische Psychologie, sein Formgefühl“.

Eindrücke, die in ihr „völlig neue Vorstellungen hervorriefen, aus der Zwangsläufigkeit des musikalischen Ursprungs und Aufbaus herrührend“. O-Ton Tureck: „Gleichzeitig wurde mir klar, daß ich eine ganz neue Klaviertechnik entwickeln mußte, um diesen neuen Vorstellungen von Bachs Musik gerecht zu werden. Ich wußte, was und wie ich es zu tun hatte, denn die Kraft der Erkenntnis kam aus der Musik selbst.“ Im Gegensatz zu anderen Pianistinnen, etwa Clara Haskil (1895 bis 1960), die immer wieder von extremen Selbstzweifeln heimgesucht wurde, ist sich Rosalyn Tureck der Bedeutsamkeit ihrer Arbeit stets bewußt gewesen.

Turecks Neuaufnahme der „Goldberg- Variationen“, die dieser Tage von der Deutschen Grammophon Gesellschaft veröffentlicht wird, ist in vielerlei Hinsicht bedeutsam. Die wenigsten dürften wissen, daß die Tureck damit bereits die fünfte Einspielung dieses Zyklus vorlegt, darunter auch eine Version auf dem Cembalo von 1979. Ihr verspätetes Debüt bei Deutschlands feinstem Klassik-Label zeigt, wie sehr der Bekanntheitsgrad eines Musikers von den (Fehl-)Entscheidungen führender Industriebosse abhängig ist und wie wenig von künstlerischen Leistungen.

Wäre es mit rechten Dingen zugegangen, stünde ihr Name auch für das breite Publikum seit Jahrzehnten ebenso synonym für kongeniales Bach-Spiel wie der von Glenn Gould. In England und den USA als Klavierlegende verehrt, ist Rosalyn Tureck im Land des deutschen Barockmeisters ein Geheimtip geblieben. Das mag auch daran liegen, daß ihre Karriere nie von einer großen Plattenfirma exklusiv gefördert, betreut und dokumentiert wurde. Der ruinösen Vermarktungsmaschinerie des auf Stars versessenen Musikbetriebs hat sie sich nie ausgeliefert. Tureck selbst bedauert, wie heute der Glamour und das äußere Beiwerk die Musikszene dominieren.

Am 14. Dezember 1914 als Tochter russisch-türkischer Eltern in Chicago geboren, debütierte sie bereits neunjährig in Chicago und wurde Schülerin der ehemaligen Assistentin des Komponisten und Klaviervirtuosen Anton Rubinstein, Sophia Brilliant-Liven. Sie vermittelte ihr das technische Rüstzeug aus der Tradition der russischen Klavierschule. Jan Chiapusso, Bach-Spezialist und Exschüler des legendären Pädagogen Theodor Leschetizky, erkannte und förderte ihre Begabung für Bach.

Mit sechzehn – sie war bereits eine kundige Bach-Spielerin, die neben dem Klavier auch das Cembalo, das Klavichord und die Orgel beherrschte – erhielt sie ein Stipendium an der New Yorker Juilliard School und schloß ihr Studium nach vier Jahren mit Auszeichnung ab. 1936 gab Rosalyn Tureck mit Brahms' Zweitem Klavierkonzert unter Eugene Ormandy und mit dem Philadelphia Orchestra ihr Orchesterdebüt in der New Yorker Carnegie Hall. In einer Konzertreihe, die so illustre Solisten wie die Pianisten Sergej Rachmaninoff und Vladimir Horowitz präsentierte.

Neben dem großen Klavierrepertoire mit Werken von Liszt, Tschaikowsky, Rachmaninoff oder Beethovens Fünftem Klavierkonzert setzte sie sich auch intensiv für die zeitgenössische Musik ein. So gründete Tureck in New York eine Gesellschaft für Neue Musik, die sie von 1949 bis 1953 leitete, und brachte Werke wie die ihr gewidmete komplexe Klaviersonate von David Diamond oder das Klavierkonzert von William Schuman zur Uraufführung.

Parallel zur traditionellen Solistenkarriere etablierte sich Rosalyn Tureck als exzeptionelle Bach-Interpretin. Bereits als Teenager betrieb sie wissenschaftliche Studien zur Barockmusik und gab Konzerte ausschließlich mit Bachscher Musik. Mit 23 Jahren führte sie in sechs wöchentlich in New York stattfindenden Konzerten das gesamte „Wohltemperierte Clavier“, die „Goldberg-Variationen“, die Partiten und Suiten sowie verstreute Werke Bachs aus dem Gedächtnis auf dem Klavier auf. Ihr Bach-Spiel hatte damals bereits jene unverkennbare Kontur, wie ein kürzlich veröffentlichter Mitschnitt von 1948 zeigt: bestechend durch die präzise Ausführung des Notentextes, die vital- logischen Verzierungen und einen runden, warmen Ton.

Tureck beeindruckt durch die kompromißlose Autorität des Spiels, das ein Gefühl des „So und nicht anders“ beim Hörer auslöst. In den vermeintlich abstrakten Strukturen Bachs, in den oft als trocken abgetanen Fugen und zopfigen Tänzen, beginnt eine Lebendigkeit zu pulsieren, die weder romantisch noch historisierend ist, sondern schlicht aus dem Zentrum der Noten erwacht.

Im Jahr 1957 gründete sie die Tureck Bach Players, ein Kammerorchester, mit dem sie regelmäßig in der Londoner Festival Hall auftrat und bei großen britischen Festivals wie dem von Glyndebourne gefeiert wurde. Als erste Frau dirigierte sie mit Bach-Programmen die New Yorker Philharmoniker und leitete andere renommierte Orchester wie das National Orchestra of Washington oder das Israel Philharmonic Orchestra. Als aufführende Musikerin verläßt sich die Tureck nicht allein auf ihre Intuition, sondern untermauert als Musikforscherin ihre Bach-Obsession durch historisch-aufführungspraktische Studien. So gab sie Urtextausgaben heraus, verfaßte ein dreibändiges Werk zur Aufführung Bachscher Musik, das auch ins Japanische und Spanische übersetzt wurde. 1966 rief sie das Tureck Bach Institute mit Hauptsitz New York ins Leben und 1993 in Oxford, wo sie auch heute lebt, die Tureck Bach Research Foundation, von der jährlich wissenschaftliche Symposien veranstaltet werden.

Neben Vortragsreisen und ihrer bis heute aktiven Konzerttätigkeit hat sich Tureck auch als Pädagogin einen hervorragenden Namen gemacht. Schon mit 21 Jahren unterrichtete sie am Konservatorium von Philadelphia, später auch an großen Universitäten wie Columbia, New York oder Chicago. Hinzu kamen zahlreiche Meisterklassen.

Einen umfassenden Einblick in Turecks Kunst vermitteln die von der kleinen amerikanischen Firma VAI herausgebrachten CDs und Videos, die vor allem Live-Material von den Anfängen ihrer Karriere in den dreißiger Jahren bis zu Mitschnitten unserer Tage bieten. Darunter natürlich viel Bach, auch ein Cembalo-Recital aus dem Jahre 1981, aber ebenso hinreißende Dokumente von Tureck als brillanter Virtuosin romantischen Zuschnitts: eine atemberaubende Interpretation von Liszts „Paganini-Etüden“ aus dem Jahr 1945 oder eine elegant-eloquente Wiedergabe der Brahmsschen „Händel-Variationen“ von 1992, ganz aus dem kontrapunktischen Geist des 17. Jahrhunderts heraus entfaltet.

Die Neuaufnahme der „Goldberg- Variationen“ betrachtet Rosalyn Tureck als „Summe meiner gesamten musikalischen, technischen und wissenschaftlichen Erfahrung als Interpretin und Mensch, der Interesse an Ideen und Gefühlen hat“. Die sorgfältig edierte CD bietet mit dem zusätzlichen CD-plus- score-System jedem Besitzer eines Computers mit CD-ROM-Laufwerk die Möglichkeit, Turecks Notenausgabe nebst ihren analytischen Kommentaren am Bildschirm zu verfolgen und weitere Informationen und Bildmaterial zu Bachs Leben und Werk sowie zur Karriere der Künstlerin abzurufen.

Das eigentliche Ereignis bleibt jedoch die Musik. Die energetische Kraft ihres Spiels läßt sich nicht allein durch den Nuancierungsreichtum ihres Anschlags erklären, nicht durch die Strenge ihres Aufbaus, nicht durch ihre gleichermaßen gemeißelten wie swingenden Rhythmen und auch nicht durch den polyphonen Reichtum. Diese Kraft entsteht aus der Summe eines von Erfahrungen erfüllten Künstlerlebens. Was an Turecks Spiel überzeugt, ist jener humane „Mehrwert“, der durch dieses große Wissen freigesetzt wird.

Wenn am Ende der „Goldberg-Variationen“, nachdem das Thema den gesamten Kosmos der Bachschen Verwandlungskunst durchlaufen hat, die Aria in sublimer Schlichtheit wieder erklingt, hat Rosalyn Tureck durch ihr Spiel das zurückgewonnen, was in der heutigen Zivilisation am meisten als Verlust beklagt wird: Zeit.

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen