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Tante Bleimi Von Fanny Müller

Wer keine Familie hat, ist arm dran. Wenn Sie von allen Freunden und Freundinnen verlassen wurden, weil Sie ihnen jahrelang die Ohren vollgejammert haben über Ihre Familie – wer bleibt Ihnen dann noch? Die Familie. Oder wenn Sie im Zuchthaus sitzen, weil Sie z.B. mit einem Schraubenzieher Angeberautos markiert haben, wer besucht Sie dann im Knast und Sie können gar nichts dagegen machen? – Ihre Mutter.

Angeberautos nannte übrigens meine Mutter gewisse Automarken; ich hielt das aber für einen Markennamen und wünschte mir nichts sehnlicher, als eines Tages auch solch ein Angeberauto zu haben wie Onkel Klaus, der einen Daimler besaß. Daimler und Fernseher, so damals die Meinung meiner Mutter, besäßen nur Metzger. Das leuchtete mir unmittelbar ein; ich kannte niemanden, der beides hatte, außer Onkel Klaus, und schließlich war er Metzger. Seine Frau, Tante Hazel, von uns Kindern Tante Bleimi genannt, war eine untypische Metzgersgattin, und damit komme ich direkt zum Thema des heutigen Vortrags. Ohne Familie keine Tanten! Ohne Tanten kein Glamour! Ohne Glamour kein Spaß!

Bleimi war die Tochter eines englischen Missionars, der in China das machte, was Missionare so machen, und deshalb Anfang der vierziger Jahre dort rausgeworfen wurde. Klaus lernte Bleimi irgendwie kennen und vermutlich lieben. Er brachte sie in unser Dorf zurück, wo man nicht daran gewöhnt war, daß Gattinnen Lippenstift trugen, wenn sie im Kolonialwarenladen shoppen gingen und praktisch ununterbrochen eine Zigarette im Mundwinkel hängen hatten, sogar beim Stricken und Kochen und auf dem Feuerwehrball. Dort erregte sie auch einiges Aufsehen mit ihrer Frage nach einem Tango. Ein Ansinnen, das sofort als anrüchig eingestuft wurde und mit dem die Drei-Mann-Blaskapelle sowieso hoffnungslos überfordert gewesen wäre. Den Tango lernten wir dann in ihrer Küche nach argentinischen Schallplatten. Später, als wir Englischunterricht in der Schule hatten, brachte sie uns Wörter und Sätze bei, die sie von Londoner Taxichauffeuren übernommen hatte, etwa „Carr blimey, guv'“, was, erst ins Englische und dann ins Deutsche übersetzt, „Gott blende mich, Gouverneur“ heißt, aber nicht ganz so gut klingt wie das Original, finde ich. Unsere Lehrer fielen in Ohnmacht – na, beinahe, aber wir versicherten, daß wir es in einem englischen Buch aus der Schülerbücherei gelesen hätten. Zwei der drei älteren Schwestern von Klaus, Mimi und Tante Toni, hatten bereits 1937 und 1944 geheiratet, während die dritte, Tante Gretchen, immer noch nichts „in Aussicht“ hatte, was Bleimi 1949 dazu veranlaßte, Gretchen damit zu trösten, daß sie noch zwei Jahre Zeit habe: „Carr, blimey, deine Schwestern sind ja gegangen weg als die heißen Brötchen (sie meinte warme Semmeln) – alle sieben Jahre eine!“

Die Schwestern fanden das taktlos und waren überzeugt, daß man sich später, nach dem jeweiligen Hinscheiden, auf keinen Fall wiedersehen würde. Das entsprach durchaus Bleimis Vorstellungen vom Paradies. Wo sie jetzt übrigens schon seit einigen Jahren weilt. Ich hoffe, es gibt einen Zigarettenautomaten. Und jede Menge Tangoplatten. Oder CDs, falls sie da schon so weit sind. Blimey!

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