: Mullah Omars bunter Haufen zerfällt
Unter Afghanistans Taliban mehren sich interne Spannungen. Seit ihrem unaufhaltsamen Vormarsch haben die Radikalislamisten zahlreiche Opportunisten rekrutiert. Sie verfolgen nun ihre eigenen Interessen ■ Von Thomas Ruttig
Berlin (taz) – Er hoffe, daß das UN-Personal bald wieder nach Afghanistan zurückkehren könne, erklärte Kofi Annan im Dezember. Zuerst aber müßten die Taliban einen vollständigen Bericht über den Tod von drei Mitarbeitern, einem Italiener und zwei Afghanen, vorlegen. Den hat der UN-Generalsekretär bis heute nicht, und doch reiste Erick de Mul, Chef des humanitären UN-Hilfsprogramms in Afghanistan, in der vergangenen Wochen schon mal in die Taliban- Hauptstadt Kandahar. Begründung: Man wolle den „Dialog nicht abreißen“ lassen.
Der letzte ernsthafte Gegner der Ultraislamisten, Ahmad Schah Masud, hält dagegen von Dialog derzeit wenig. Er hat im Dezember mit 400 Kommandeuren und Stammesältesten eine neue Oppositionsallianz auf die Beine gestellt, die „Vereinigte Front“. Für diesen Monat hat er eine Großoffensive angekündigt. Vergangene Woche wurde er zum Chef des neuen Obersten Militärrats gewählt.
Damit ist Masud der unbestrittene neue Führer der Anti-Taliban-Opposition. Seine früheren Verbündeten, die alten Mudschaheddinführer und die usbekischen Warlords Dostum und Abdul Malek, spielen keine Rolle mehr. Sie hatten sich nach dem Siegeszug der Taliban im letzten Sommer ins Ausland abgesetzt und ihre Anhänger „der Gnade der Taliban“ überlassen, wie es Masuds Bruder und Botschafter der Taliban-Gegner in London, Wali Schah, formulierte. Unterstützt von der lokalen Bevölkerung hat Masuds neue Allianz erste Geländegewinne zu verbuchen.
Auch wenn ihre Kontrolle über mehr als 80 Prozent des Landes anderes suggeriert, befinden sich die Taliban derzeit in der Krise. Nach der Affäre um den saudischen Islamistenführer Ussama Bin Laden, der bei ihnen untergeschlüpft ist, wandten sich die USA endgültig von ihnen ab, ebenso ihr bisheriger Hauptsponsor Saudi-Arabien. Für Washington war der Höhepunkt erreicht, als Taliban-Chef Mullah Omar im vergangenen Jahr eine Tochter Bin Ladens zur dritten Frau nahm. Weil Familienbande einem jedem Paschtunen heilig sind, kann US-Präsident Bill Clinton mit der Heirat eine Auslieferung Bin Ladens vollends vergessen.
Der Nachbarstaat Usbekistan stellte kürzlich der von den Taliban gehalteten Großstadt Masar-e Scharif „wegen unbezahlter Rechungen“ den Strom ab. Damit bleibt von den Unterstützern der Taliban allein das wirtschaftlich angeschlagene Pakistan. Und auch dort wächst der US-Druck, sich von den Taliban loszusagen.
Auch im Innern der Taliban brodelt es. Die Bewegung ist längst nicht mehr monolithisch. Ihr Vormarsch seit Ende 1994 hat Opportunisten genauso angezogen wie politische Kräfte, die hofften, die Bewegung für ihre Ziele instrumentalisieren zu können: königstreue Ex-Mudschaheddin und paschtunische Nationalisten, selbst aus dem Khalq-Flügel der früheren Kommunistischen Partei.
Vor diesem Hintergrund kam es zu Auseinandersetzungen zwischen zwei Taliban-Flügeln, den Hardlinern um Mullah Omar und den Anhängern seines Vizes, Mullah Muhammad Rabbanil. Pakistanische Medien berichteten seit Oktober über mehrere interne Umsturzversuche. In Kabul und Dschalalabad seien einflußreiche Stammeschefs und frühere Mudschaheddin-Kommandanten sowie hohe Khalq-Offiziere verhaftet worden. Der royalistische Ex- Mudschaheddinchef Seyyed Ischaq Gailani gab zu, daß Mitglieder seiner Partei Nifa verhaftet wurden, bestritt aber, daß sie in Komplotte verwickelt gewesen seien. Kabuls früherer Verteidigungsminister General Schahnawas Tanai meinte: „Weder war ich an irgendeinem Coup beteiligt, noch ist einer meiner Kollegen verhaftet worden.“ Zumindest letzteres ist falsch. Der Taliban-Gouverneur von Dschalalabad, Mullah Sadre Asam, bestätigte, daß „frühere Kommunisten“ dort geplant hätten, „Bomben zu legen und die Gesetzlosigkeit anzufachen“. Trotz beiderseitiger Dementis halten sich Gerüchte, Mullah Rabbani sei entmachtet worden. Der hatte von den Vereinigten Arabischen Emiraten aus die BBC und Voice of America angerufen und erklärt, er halte sich dort lediglich zur medizinischen Behandlung auf.
Gefahr droht den Taliban auch von den zahlreichen Überläufern. Viele lokale Mudschaheddin- Kommandanten zogen es vor, sich auf die Seite der von Sieg zu Sieg eilenden Bewegung zu schlagen, statt sich ihr entgegenzustellen. Mit der Ideologie der Taliban haben sie wenig zu tun, regieren aber in ihrem Namen mehrere zentral- und nordafghanische Provinzen. Die Verbindungen zu ihren früheren Verbündeten in der Masud-Allianz haben sie nie ganz abreißen lassen – für den Fall, daß sich die Zeiten erneut ändern sollten.
Inzwischen wird selbst aus dem paschtunischen Kernland der Taliban Aufruhr gemeldet. Im vergangenen Jahr kam es mehrmals sogar in der Nähe von Kandahar zu Kämpfen, als sich lokale Stammesführer Zwangsrekrutierungen der Taliban widersetzten. Es gab Tote. Die Stammesführer sollen bei den schweren Kämpfen im Sommer 1997 und 1998 die Hälfte ihrer ursprünglichen Kerntruppe eingebüßt haben. In Dschalalabad gingen im Dezember Studenten auf die Straße und protestierten gegen die Veruntreuung von Geldern für ihre Wohnheime durch den Rektor der Universität. Dessen Bruder, ein hoher Taliban-Kommandeur, ließ auf sie schießen. Drei Demonstranten starben. Der Rektor und sein Bruder wurden verhaftet.
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