: Ein Single bleibt selten allein
Allein auf der schicken Seite des Lebens: „Wachgeküßt“ erzählt vom Blues der mittleren Jahre. Der Film hat alle richtigen Zutaten – nur leider den falschen Koch ■ Von Thomas Winkler
Die biologische Uhr tickt. Wenn Kinder auf dem Fernsehschirm auftauchen, schaltet Judith um. Ihr Mann hat sie verlassen, nun lebt sie zwar immer noch auf der schicken Seite des Lebens, aber allein, in einem viel zu großen Apartment in New York. „Ich wünschte, ich hätte ihn erstochen“, sagt sie über ihren Ex- Mann. „Ich war mal gefährlich.“ Der Blues der mittleren Jahre wird hier zum Fluch. In „Wachgeküßt“ geht es darum, wie schwierig es ist, wieder gefährlich zu werden.
Judith ist eine Frau, die ohne die Fältchen um ihre Augen nur halb so schön wäre und die sich doch wie unsichtbar fühlt. Holly Hunter spielt Judith als einen Menschen, der erst wieder lernen muß, daß einen Zerbrechlichkeit auch stark macht. Dem könnte man endlos zusehen. Als sie in einem Jazz- Club auf dem Weg zur Toilette in ein Hinterzimmer gezerrt und von einem Wildfremden – der sie verwechselt hat – geküßt wird, lernt sie wieder, daß Begehrtwerden bei einem selbst beginnt. Mit Pat, dem von Danny DeVito gespielten Fahrstuhlführer ihres Apartmenthauses, durchredet sie ganze Nächte voller Kaffee und Whiskey, um Vertrautheit wieder zu ertragen. In beiden Fällen ist die Fremdheit des anderen der eigene Schutz. Und ganz wie im echten Leben ist die übliche Film-Arithmetik hier außer Kraft gesetzt. Jeder ist allein, zu zweit ist man nicht mehr einsam, aber aus eins und eins wird auch hier nicht in jedem Fall ein Paar für die Ewigkeit.
Hier haben wir einen Film, der schwatzhaft ist und verspielt, der um die Liebe kreist und ihre Macht, auch und sogar über Rassen- und Klassenschranken hinweg; um Verlust und Leidenschaft; um Einsamkeit und Selbstmord und noch ein paar Motive, die gemeinhin guten Stoff für einen Film liefern. Auch werden in „Wachgeküßt“ endlich einmal wieder nicht nur lange, sondern auch gute Dialoge gesprochen. Die Schauspieler interpretieren ihre Rollen vorsichtig und liebevoll, also ganz so, wie das Drehbuch seinen Figuren begegnet.
Freilich steht „Wachgeküßt“ der eigene Regisseur im Wege. Dabei hat Richard LaGravenese eine prominente Liste von Filmen vorzuweisen. Von ihm stammen die Drehbücher zu „König der Fischer“, „Die Brücken am Fluß“ und „Der Pferdeflüsterer“. Von zwei Kurzgeschichten von Anton Tschechow inspiriert, hat er jetzt „Wachgeküßt“ geschrieben. Es ist zugleich seine erste Regiearbeit: Der Film hat die richtigen Zutaten, aber wohl den falschen Koch. Auch wenn Klaviergeklimper einsetzt, während Pat von seiner verstorbenen Tochter erzählt, ist LaGravenese vor allem damit beschäftigt, sich vehement gegen jeden möglichen Hollywood-Mainstream-Verdacht zu wehren. Deshalb spielt die Besetzung auch mit unseren Sehgewohnheiten: dem kleinen, fetten DeVito dabei zuzusehen, wie er sich verliebt, wie er Sex will, das sind wir nicht gewohnt.
In gewisser Weise teilt der Film das Schicksal seiner Protagonisten: Ein Haufen wundervoller Szenen sucht nach Anschluß. So dürfen wir beobachten, wie eine Umarmung eher dazu dient, daß man sich nicht mehr in die Augen schauen muß. Oder zusehen, wie der Teufel Alkohol eine Mittvierzigerin enthemmen darf. Wir dürfen zugegen sein, wenn die Rapperin und angehende Talk-Show- Gastgeberin Queen Latifah als Jazz-Sängerin Liz ein unglaublich rotes Kleid trägt und später dann „Lush Life“ von Billy Strayhorn singt.
In der vielleicht schönsten Szene des Films zitiert sich LaGravenese selbst. Wie im „König der Fischer“ die durch die Grand Central Station hetzenden Massen plötzlich miteinander zu tanzen beginnen, so formt sich in „Wachgeküßt“ aus dem Chaos einer Disco- Tanzfläche im ecstasyschweren Kopf von Judith ein Ballett. Eins muß man LaGravenese lassen: Kaum jemand schreibt solch wundervolle Liebeserklärungen an New York, in denen trotzdem kein einziger Touristentreffpunkt vorkommt.
Das alles ist unterhaltsam, des öfteren lehrreich, manchmal sogar berückend und hin und wieder auch komisch, steht aber meist eher bedeutungslos nebeneinander. Warum stirbt Pats Tochter? Warum wird er von Kredithaien verfolgt? Manches trägt schlicht nicht zum Fortgang der Geschichte bei, auch wenn diese unaufhaltsam auf die soziale Wiedergeburt seiner vereinsamten Helden hinausläuft.
„Wachgeküßt – Living Out Loud“. Buch und Regie: Richard LaGravenese. Mit Holly Hunter, Danny DeVito, Queen Latifah u.a. USA 1998, 102 Min.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen