piwik no script img

Kitschig rosane Katastrophe

Brechende Deiche und entfesselte Naturgewalten sollten schon dabei sein, wenn eine Bayerin ihre erste Sturmflut erlebt  ■ Von Kristina Maroldt

Der Schrei gellt über den dunklen Fischmarkt. Langgezogen und leidend klingt er, geradezu unheimlich im Morgendunkel. Dann: Stille. Windheulen. Schwarzes Wasser schwappt über das Pflaster und leckt gierig an meinen durchweichten Turnschuhen.

Gestern, 7 Uhr: Sturmflut in Hamburg. Die erste des Jahres für die HamburgerInnen und die erste des Lebens für mich. Zu Hause in München kennt man Hochwasser von kaputten Waschmaschinen. Sturmflut dagegen klingt nach Abenteuer. Nach brechenden Deichen und entfesselten Naturgewalten. Der alte Mann, der am Donnerstag abend, als die Flut begann, vor der Fischauktionshalle stand, hat mir von der Flutkatastrophe von 1962 erzählt: „Das war grausam. Über 300 Menschen sind da gestorben, alles war überflutet.“

Und nun dieser Schrei. Er kommt aus der dunklen Ecke auf der anderen Seite des Fischmarkts. Vielleicht sollte man mal nachsehen, ob da jemand Hilfe braucht. Ich wate über den Platz. 5,70 m hoch ist der Wasserstand jetzt, erklärt mir ein Mitarbeiter des Technischen Hilfswerks. Eine beeindruckende Zahl, doch der Mann bleibt ruhig: „Och, Sturmflut gibt's hier drei- bis viermal im Jahr. Bevor es nicht über 7,20 m steigt, besteht keine Gefahr.“

Ich fühle mich keineswegs beruhigt. Das Wasser reicht mittlerweile bis zur Tür der „Orkanbar“ am Fischmarkt. Vor Südnorwegen wurden Windgeschwindigkeiten von über 140 km/h gemessen, und wenn der Nordwest-Wind anhält, drückt er noch mehr Wasser in die Elbe. Das würde noch mehr Flut bedeuten, erklärte der alte Mann vor der Auktionshalle.

Ich bin fast auf der anderen Seite des Fischmarkts angelangt. Zwei Männer mit Fernsehkameras hasten durchs Wasser an mir vorbei. Beide wirken irgendwie panisch – wahrscheinlich hat eben wirklich ein Flutopfer geschrien. Ich gehe schneller. Vor der Treppe, die zum überfluteten Fischmarkt führt, drängeln sich Menschen. Ich zucke zusammen: Schon wieder der Schrei, jetzt ganz nah. Ich beuge mich über das Geländer.

Da steht ein junger Mann mit Gummihosen, ein Mikrofon in der Hand, bis zum Bauch im Wasser und schreit. Dann fängt er an zu fluchen: „Scheiße! Mir ist Wasser in die Hose gelaufen!“ Mein vermeintliches Flutopfer bahnt sich einen Weg durch die umstehenden Kameraleute und Tontechniker, watschelt aus dem Wasser und verschwindet Richtung Aufnahmewagen. Sein gelbes Fernsehmikrofon läßt er auf der Treppe liegen. „Jo, der is' wohl'n büschn naß geworden“, meint ein regenbemantelter Rentner neben mir und grinst.

Ich wende meinen Blick von dem hektischen Filmteam ab. Über dem Fischmarkt geht langsam die Sonne auf, das schon merklich zurückgegangene Wasser schimmert kitschig rosa. War das jetzt meine erste Sturmflut? Ich denke kurz und wehmütig an brechende Deiche und entfesselte Naturgewalten. Dann schaue ich auf den friedlich wogenden Fischmarkt. Ist ja auch ganz schön so.

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen