: Bremer Standesbeamte als nationalsozialistische Erbpolizei
■ Alltagsgeschichte der rassistischen Erbhygiene der Nazis / Historiker fand „erbbiologische Kartei“
1992 hat der Historiker Asmus Nitschke auf dem Dachboden des Gesundheitsamtes in Bremen-Nord einen verstaubten Schrank gefunden: Mehr als 5.000 Akten über Fälle der nationalsozialistischen Erbgut- und Rassenfrage lagerten dort. Wohlerhalten auch 50 Jahre danach. Nitschke arbeitete fünf Jahre an dem Thema. Am heutigen Dienstag abend wird er aus seiner Dissertation „Die Erbpolizei im Nationalsozialismus“ (Westdeutscher Verlag, 1998) lesen.
Im Interesse der Volksgesundheit hatten die Nazis eine „Erbbiologische Bestandsaufnahme“ begonnen, in der am Ende des 1.000jährigen Reiches mehr als 25 Prozent der Bremer Bevölkerung erfaßt war. Die Kartei speiste sich aus Angaben von Ärzten und aus den Untersuchungen für „Eheunbedenklichkeits-Bescheinigungen“, denen sich jede/r, der oder die heiraten wollte, seit 1933 unterziehen mußte. Rassische, soziale und gesundheitliche Gründe konnten dazu führen, daß die Erlaubnis zur Eheschließung untersagt wurde.
Zum Beispiel: Wenige Wochen nach Kriegsbeginn hatte ein Beamter des Bremer Standesamtes den Eindruck, daß bei „Fräulein M.“ ein Ehehindernis im Sinne des Erbgesundheitsgesetzes vorliegen könnte. M. war keine Halbjüdin, nicht trunksüchtig, nicht „asozial“ oder eine Prostituierte, sie war schlicht farbenblind. Der Bremer „Landesobmann für die erbbiologische Bestandsaufnahme“, Dr. Otto Rogal, teilte der Frau zwei Monate später mit, sie müsse sich einem „Erbgesundheitsverfahren“ unterziehen. Im Klartext: Sie müsse sich sterilisieren lassen. Daß die „Arbeitgeberin“ von M. – sie war als Haushaltshilfe tätig – ein gutes Wort für sie einlegte, nutzte nichts. M. ließ sich sterilisieren. Als ein Jahr später, 1940, der Verlobte nun die „Befreiung vom Ehehindernis“ beantragte, lehnte der Bremer Amtsarzt Dr. Langer ab. Begründung: Bei dem Verlobten lägen keine Anzeichen für ein Erbleiden vor, auf seine Nachkommen könne „bei dem bestehenden Geburtenmangel“ und „im Hinblick auf die Kriegsverluste“ nicht verzichtet werden. Als das Paar daraufhin Beschwerde beim Reichsinnenminister einlegte, wurde Bremens Bürgermeister aus Berlin aufgefordert zu klären, ob sein Gesundheitsamt wirklich zugesichert habe, das Paar könne nach einer Sterilisation der Frau heiraten. Der für die „Erbgesundheit“ zuständige Abteilungsleiter Rogal erklärte, eine solche Zusage habe es nie gegeben.
Er log damals, wie die von Nitschke ausgewerteten Akten ergeben. Rogal war ein Scharfmacher der NS-Erbgesundheitspolitik. Einer jener jungen aufstrebenden Männer, für den 1933 – Rogal war da gerade 26 Jahre alt – die Chance gekommen war, die konservativen Standeskollegen aus der Gesundheitspolitik zu verdrängen. Aus Rogals Kartei bediente sich auch die Gestapo, als sie Züge für die Vernichtungslager zusammenstellte. Diese Kartei war den Nazis so wichtig für die Zeit nach dem Endsieg, daß sie sie in Worpswede einlagerten, als die Bomben fielen. Und sie überlebte das 1.000jährige Reich: Das „entnazifizierte“ Bremer Gesundheitsamt nach 1945 verwahrte die Unterlagen als „rein medizinische Angelegenheit“ auf und verwehrte auch den Entnazifizierungs-Behörden den Zugang.
Der von den Amerikanern 1945 eingesetzte neue Leiter der Gesundheitsverwaltung konnte sich darauf berufen, daß die Ehegesundheitsgesetze der Nazis nach 1945 fortgalten. Er hielt die erbbiologische Bestandsaufnahme „im Interesse der Förderung der Volksgesundheit für begrüßenswert“.
Dr. Rogal wurde in Bremen 1950 übrigens als harmloser „Mitläufer“ eingestuft. Die Spruchkammer im Entnazifizierungsverfahren sah sich „nicht in der Lage, irgend etwas festzustellen, was den Betroffenen belasten könnte“, steht in dem Urteil. 1976 war Rogal wieder als Arzt beim Versorgungsamt der Stadt Bremen angestellt. Die nationalsozialistischen Erbgesundheits-Gerichtsurteile wurden erst 1998 für rechtsungültig erklärt. K.W. Aus der „Alltagsgeschichte des gesundheitspolitschen Rassismus“ liest der Autor Asmus Nitschke heute in der Stadtbliothek Neustadt, 20 Uhr. Einleitend spricht der derzeitige Leiter des Gesundheitsamtes, Dr. Jochen Zenker.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen