: Krümel aus der Manteltasche der Philosophie
Wie bastele ich mir aus „tausend Plateaus“ ein viertägiges Deleuze/Guattari-Event? Die Berliner Volksbühne hat einen Kongreß über „einheitslose, anarchische Vielheiten“ werden lassen – mit Sponti-Parolen, galorem Bewußtseinsshopping und Ficken 2000 ■ Von Gerrit Bartels
Mathieu Carrière erwartet man an diesem Wochenende in der Berliner Volksbühne am wenigsten. Der Schauspieler aber hat sich selbst spontan eingeladen: „Ihr macht eine Veranstaltung über Mille Plateaux, über Deleuze/Guattari? Geil, ich komme, ihr dürft auch mit mir werben.“
Bei aller Begeisterung hat aber selbst der ehemalige Deleuze-Student Carrière seine Bedenken, als er am ersten Abend unaufgefordert im Sternfoyer der Volksbühne das Mikro ergreift und die Anwesenden auffordert, selbst mitzumachen: „Nehmt nicht alles so hin, scheißt in die Ecken, klebt Plakate an die Wände, laßt uns ein interaktives, äh, Seminar abhalten!“ Und tatsächlich ist das mit diesen Kongressen mittlerweile so eine Sache: immer viel theoretischer Überbau, viel guter Wille, viel Chaos. Und am Ende die Party, auf der es sich mit einem Bier in der Hand sowieso am besten reden läßt.
Der 1.000-Plateaus-Kongreß, Gilles Deleuze und Felix Guattari und ihrer gern mit Begriffen wie bunt, poppig und offen bezeichneteten Philosophie gewidmet, protzt zuerst einmal mit der schieren Vielzahl der Veranstaltungen, ob sie nun zusammenpassen oder nicht: vier Tage lang sogenannte Werkstattgespräche und Dialoge, Musik und Vorträge, Lesungen und Theater, Essen und Trinken. Und ein Radiosender, der „Ereignisradio“ macht, in der ganzen Stadt zu empfangen ist und die Leute ins Haus locken soll: Denjenigen, die am Eingang nur ein Programm haben wollen, wird dieses verweigert mit dem Hinweis, sie könnten ja Radio hören.
Warum das alles, weiß aber auch von den Veranstaltern keiner mehr genau zu sagen. Und weil das so ist, muß der „Abschied vom Menschen als das Thema am Ende des Jahrtausends“ herhalten, darunter geht nichts, und eben Deleuze/Guattari, die diesen Prozeß „gelassen, fröhlich und produktiv sehen“. Genügen mag auch die Kongreßwerdung durch „einheitslose, anarchische Vielheiten“ oder der Sponti-Spruch, den Volksbühnendramaturg Carl Hegemann bei seiner Eröffnungsrede macht: „Das Niveau ist hoch, aber keiner ist drauf.“ Auch nicht Peter Weibel vom ZKM in Karlsruhe, dessen schnell und hingenuschelt gelesener Vortrag „Industrie und digitale Revolution“ nur ganz Hartgesottene am Ball bleiben läßt, selbst sein T-Shirt mit dem Aufdruck „I'm a slave of Microsoft“ wirkt bald nur wie selbstgefällige Koketterie.
Überhaupt ist das Sternfoyer, wo Weibel seinen Vortrag hält, eine Bühne, die sich vortragsmäßig nur schwer rocken läßt. Ein improvisiertes italienisches Restaurant sorgt für den richtigen Lärmpegel, und auch der davor liegende Theatergang als Treffpunkt, Flaniermeile und Verbindung zwischen Rotem und Grünem Salon ist nicht konzentrationsförderd.
So gilt es in diesen Tagen vor allem zu fluten und zu zappen. Da schnappt man hier auf, daß es um „eine neue Art von politischen und sozialen Kämpfen geht“, da sollen dort „künstlerische Prozesse durch soziales Handeln sichtbar“ gemacht werden“. Keine Atempause, Bedeutung wird gepumpt. Die aber verliert sich genauso schnell wieder, wie sie ausgesprochen ist, die durch alle Räume schwirrenden D/G-Begriffe versickern irgendwann einfach mit im großen Rauschen. Diskussionen sind zwar erwünscht, wollen aber nirgendwo so richtig in Gang kommen, und während man im solarzellengesteuerten Volksbühnenradio zwecks einer Simultanübersetzung den Haussender sucht, dringt über einen Privatsender die Außenwelt in Form von Herbert Grönemeyer ein.
Damit es aber nicht nur beim einseitigen und folgenlosen Konsumieren von Theorie bleibt, sorgen draußen vor der Volksbühne ausgerechnet der „D&G“- Fanshop und ein silberner Bus mit der Aufschrift „Why Do You Shop“ für Kommunikationsvermittlung. Im letzteren gibt es T-Shirts, Becher und Poster mit „Why Do You Shop“-Logo, allerdings nur unter der Bedingung, dabei auch ein Gespräch über sein Konsumverhalten zu führen. Das ist amüsant – warum kauf' ich mir lieber Dickies- als Carharrt-Hosen? –, führt aber nicht weiter, von wegen Kritik an Konsumgesellschaft und „Debürokratisierung von Marketing-Aktivitäten“.
Einige Meter weiter steht dann gleich der „D&G“-Fanshop. Hier kann man sich an den Ausstellungsstücken des Instituts erfreuen: „Gitanes sans filtres, 1986“ zum Beispiel, „Fundstücke aus der Manteltasche von Deleuze“; die Postkarte „die Felix Guattari Ende Mai 1968 an seine Großmutter sandte“; „Hustenbonbons, angelutscht“ (auch aus der Manteltasche). Eingerichtet wurde der „Shop“ von Studenten der Humboldt-Uni und ihrem Bestätigungsinstitut „Schitzow Signifikationen“. Für eine Mark kann man sich hier bestätigen lassen, sensibel, intelligent oder ein Kauz zu sein. Einer von den Institutsleuten freut sich über den Andrang: „Im Haus war nichts los, hier total viel, da konnte man richtige Fluchtlinien und Deterritorialisierungen ausmachen.“ So macht sich jeder seinen eigenen D/G-Reim.
Voll drauf sein aber muß man bei den Vorträgen zu „Fluchthilfe: Politik und Kontrolle“, die eine Ahnung davon vermitteln, daß Deleuze und Guattari ein bißchen mehr als nur ein Markenzeichen und ein paar Begriffshülsen sind. Joseph Vogl, Deleuze-Übersetzer, Professor in Weimar und verantwortlich für den wissenschaftlichen Teil, versucht sich mit D/G an einer Analyse zum „prinzipiellen Verschwinden des Asyls in Staats- und Rechtssystemen“; Niels Werber spricht, unter energischem Zeigefinger-Einsatz zur Kenntlichmachung seiner Zitate, über das Lesen von „Mille Plateaux“ und Rainald Goetz' „Kontrolliert“ als große Parallelaktion, über zwei Bücher, „die sich gegenseitig eliminieren“.
Vogl bedankt sich artig für die Aufmerksamkeit, wohl wissend, daß sich die Spannung zwischen Eventkultur und Vortragskultur nicht recht aufrechterhalten läßt: links das Radio Internationale Stadt, Tür auf, Tür zu, von oben französische Chansons, und rechts Schlingensiefs „Seven-X-Theater“ mit Porno-Casting und Pinkfilmdreh. Ficken 2000 statt Chance 2000 heißt es jetzt im Schlingensiefstaat. Bedürfnisbefriedigung galore mit Molly Luft, Deutschlands dickster Hure, und ihrer Assistentin. Rein in den privatesten aller Räume und zugeguckt, wie Molly den Männern einen runterholt. Anschlüsse an Mille Plateaux? Findet man sicher, aber das „Seven-X-Theater“ gehört zu der Sorte von Volksbühnen-Pop, der so manchen dann doch lieber einfach nur zu Hause Volksbühnenradio hören läßt.
Doch vielleicht ist ja wirklich jemand „angesteckt“ worden, vielleicht folgt nach diesen vier Tagen wirklich jemand dem pädagogischen Gedanken bei Deleuze, den Joseph Vogl in einem Interview einmal so formuliert hat: „Mache es in irgendeiner Weise mit mir zusammen.“ Das neue Berlin mit seinen auf Plakaten der Volksbühne abgebildeten postsozialistischen Menschen wartet bestimmt schon.
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