Ein Leben vorstellen

■ Biographien als Fiktion: die Berliner Autorin Judith Hermann und die elegischen Erzählungen ihres Debüts „Sommerhaus, später“

„The doctor says, I'll be alright but I'm feelin' blue“ – dieses Zitat von Tom Waits hat Judith Hermann ihrem Buch Sommerhaus, später vorangestellt. Und diese melancholische Ambivalenz durchzieht alle neun Erzählungen ihres literarischen Debüts. Denn stets geht es um das falsche Leben im richtigen, um verspätete Einsichten und verpaßte Gelegenheiten. Diese „Unwiederbringlichkeit der Zeit“ wird aber weder pathetisch bejammert noch intellektuell analysiert. Vielmehr wahrt Judith Hermann eine lakonische Distanz und beschreibt, statt zu erklären: scheinbar schlicht, aber ergreifend.

Mit einem ausgeprägten Sinn für Situationen beobachtet die 1970 geborene Berlinerin Menschen, die auf dem falschen Lebensgleis gelandet sind. Ichs, die es nicht schaffen, ein anderer zu sein – oder auch nur sie selbst. Zum Beispiel der abgehalfterte Bewohner einer New Yorker Absteige, der dem einzigen Mädchen, das sein tristes Dasein noch aufhellen könnte, die Tür verschließt und resigniert: „Was wäre auch gewesen.“ Oder der obdachlose Taxifahrer, der mit einem verzweifelten Hauskauf Wurzeln schlagen will und in die erworbene Bruchbude Menschen imaginiert, die ihn kaum noch kennen.

So spielen alle Figuren das konjunktivistische Spiel „Sich-so-ein-Leben-vorstellen“ – sei es, daß sie mit ihren Erinnerungen verschmelzen oder illusorische Zukunftspläne schmieden. Mitunter führt das zu grotesk-komischen Situationen, etwa bei der Frau, die einen Regisseur verführen will, sich aber statt dessen von seiner Frau bierernste Blondinenwitze anhören muß. Ein weiterer geplatzter Traum.

Judith Hermann schildert diese schlieflaufenden Schicksale aus wechselnden Perspektiven, aber mit schlafwandlerischer Stilsicherheit. Die unangestrengte, fast nüchterne Sprache und der rhythmisch-repetitive Erzählfluß zaubern eine zarte Intensität, die den Leser unterschwellig in den Bann zieht. Von besonderer Bedeutung sind dabei die Details, denn Judith Hermann versteht es, mit wenigen Strichen Welt zu schaffen. So sind ihre Erzählungen zwar kurz, aber komplex.

Dieses Kunststück gelingt auch deshalb, weil die Geschichten von Geschichten handeln, weil sie suggerieren, daß auch eine Lebensgeschichte eine Form von Fiktion ist, eine Leerstelle, die sich mit Erzählungen als Biographie verkleidet: „Ist es das? daß da nämlich gar nichts ist? nur die Müdigkeit der leeren, stillen Tage, ein Leben wie das der Fische unter Wasser und Lachen ohne Grund?“ Und vielleicht herrscht eben deshalb jene elegische Doppelbödigkeit: die Ansicht, „daß es gut und beschissen zugleich war, so zu leben“.

Christian Schuldt

Judith Hermann: „Sommerhaus, später“, Collection S. Fischer, Frankfurt am Main 1998, 188 Seiten, 20 Mark

Lesung: heute abend, 20 Uhr, Literaturhaus