: Jede Sequenz ein Tritt in die Magengrube
■ Ein unangenehmer, wichtiger und eindringlicher Film: „The War Zone“, das Regiedebüt von Tim Roth, erzählt die Geschichte eines inzestuösen Mißbrauchs und dessen Konsequenzen
Nach Gary Oldman legt nun ein anderer englischer Charakterkopf sein Regiedebüt vor. Tim Roths „The War Zone“ verbindet mehr als nur Darsteller Ray Winstone mit Oldmans „Nil By Mouth“. Hier wie da werden mit schmerzhafter Intensität alltägliche Geschichten erzählt, tristes Familienleben und die emotionale Sprengkraft, die sich schleichend entfaltet, während an der Oberfläche noch alles in Ordnung zu sein scheint.
„The War Zone“ verhandelt Inzucht und Mißbrauch. Davon merkt man zunächst noch nichts: Nach dem Umzug von London aufs Land versucht sich eine Familie in einem abgelegenen Landhaus bei Devon einzurichten. Als man die hochschwangere Mutter (Tilda Swinton) eines Nachts ins Krankenhaus fährt, überschlägt sich das Auto. Obwohl alle mit einem Schreck davonkommen, schlägt der Film hier um.
Der Vater (Ray Winstone) ist beschäftigt, die 18jährige Tochter Jessie (Lara Belmont) zieht sich zunehmend zurück, und ihr drei Jahre jüngerer Bruder Tom (Freddie Cunliffe) ringt spürbar mit der Pubertät. Als Tom wenig später vom Einkauf zurückkehrt, glaubt er Jessie und den Vater in einer eindeutigen Situation zu sehen. Überspannte Phantasien eines Teenagers? Sehr lange läßt Regisseur Roth diese Unsicherheit über seiner Geschichte hängen. Tatsächlich zeigt „The War Zone“ die Spannungen in dieser Familie.
Tom verbeißt sich in der Vorstellung, seine Schwester habe den Vater verführt – deshalb macht er ihr bittere Vorwürfe, die sie leugnet. Später wird Tom Beweise finden und Vater und Schwester beim Sex in einem abgelegenen Bunker beobachten und filmen. Die Kamera wirft er angewidert fort – weniger wegen der Widerwärtigkeit des Mißbrauchs als vielmehr wegen des vermeintlichen Betrugs der Familie durch die Schwester. Immer weiter treibt Tom die Vorwürfe gegenüber Jessie, immer stärker setzt er sie unter Druck. Erst ganz zum Schluß erkennt der verstörte Jugendliche die eigentliche Schuld. Und dann handelt er.
Tim Roth inszeniert mit wütender Leidenschaft und ungeheuerem filmischem Talent. Das an sich schöne englische Hinterland gerät in „The War Zone“ zur tristen Kulisse, für Naturschönheiten hat man längst nichts mehr übrig. Die nackte Jessie mag schön sein, aber für Voyeurismus ist bei der seltsam zerbrochen wirkenden Frau kein Platz. Immer wieder versetzt Roth seinem Publikum Tritte in den Magen. Wenn er die Kamera statisch auf dem umgestürzten Auto oder Jessies Gesicht oder dem teilnahmslos wirkenden Tom hält, bohrt sich sein Film tief und schmerzhaft in den Schädel des Betrachters. „The War Zone“ ist ein unangenehmer, wichtiger Film. Thomas Klein
Panorama: heute, 19 Uhr, Royal; 14.2., 13 Uhr, Atelier
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