: Strandlandschaft ohne Pocahontas
■ Schwermutnebel über der Idylle: Der Frankfurter Portikus zeigt Installationen und ornamentale Wandarbeiten von Gabriel Orozco
Der Frankfurter Portikus ist ein etwas unschmucker Containeranbau hinter der klassizistischen Fassade eines nicht mehr existenten Bibliotheksgebäudes. In den zehn Jahren seines Bestehens mußte er schon für manches herhalten. Gabriel Orozco inszeniert jetzt dort, mitten im Winter, eine Strandlandschaft samt mexikanischem Sand, kühlem Bier, einer Menge Muscheln und stetig schwappendem Wellenstrom. Zumindest im übertragenem Sinn.
Die Arbeiten des 1962 in Veracruz geborenen und heute in Mexico-Stadt und New York lebenden Orozco haben oft ein starkes Element des Unwirklichen – ein Sehnsuchtsmoment, das sich mit harter Realität nicht abfinden will, das vom Künstler aber wiederum so zurückgeschraubt wird, daß seine Weltentwürfe alles andere als wütende Kommentare zum Bestehenden sind. Vielmehr sind sie verhangen mit dichtem Nebel der Melancholie, in dem die Vergeblichkeit des eigenen Strebens nach Veränderung nur holographisch- irreal schimmert. Für die Ausstellung „Skulptur.Projekte“ 1997 in Münster etwa wollte er ein Riesenrad bauen, von dem nur eine Hälfte aus der Erde ragt. Die – nicht realisierte – Vergnügungsstätte glich auf seinen Zeichnungen einem alten Dampfer, gestrandet und vergessen in irgendeiner Ecke der Welt.
Orozco, der derzeit zu den international hofiertesten und meistausgestellten Künstlern seiner Generation gehört, bestückt den Portikus mit vier einzelnen Arbeiten, die gemeinsam aber ein Ensemble bilden. Gleich links neben dem Eingang ist ein kleiner Berg Muscheln angehäuft, über dem das verrostete Gestell eines einstmals wohl bequemen Stuhls steht. Seine konkave Form, jetzt nur anhand des Gerippes erahnbar, entspricht jener der unter ihm liegenden Muscheln, was Orozco trocken im Titel der Arbeit, „Muschel mit Muscheln“, andeutet.
Von diesem Muschelsessel aus blickt man auf eine fast die ganze Breite des Ausstellungsraumes einnehmende Fläche Sand, der, wie gesagt, aus Mexiko importiert wurde. Darin stehen durch und durch verrostete Dosen, die mit dem Flaschenetikett der Biermarke „Carte Blanche“ beklebt sind. Die Etiketten sind alle in Richtung des imaginären, auf dem Stuhl sitzenden Sommergasts gerichtet. Verheißung kühler Erfrischung und des Gefühls, alles sei offen, das Leben eine einzige vor einem liegende Carte Blanche.
Dahinter sieht man, obwohl weiß auf weiß, seltsame Ornamente am unteren Ende der Rückwand des Hauses hängen. Es sind 25 Papierbögen, die Orozco so beschnitten hat, daß sie zu einer fortlaufenden Welle permutieren. Vom verrosteten Muschelstuhl blickt man also über den müllübersäten Strand hinweg auf das heranströmende Meer, hier durch die Arbeit „Wellenschaum-Papier“ lediglich suggeriert. Das klingt nicht gerade verlockend, und in der Tat überzeugt einen Orozcos Installation – ähnlich wie die Werbetafeln im legendären Reisebüro der „Truman Show“ – davon, daß es woanders garantiert nicht besser, sondern viel schlimmer ist.
In sein allegorisch erscheinendes Strandensemble sickert die Realität in Form eines Videofilms, den Orozco an einem mexikanischen Strand aufgenommen hat. Bei einem Spaziergang unter blauem Himmel zoomt der Künstler in die Hütten der Strandbewohner, fokussiert auffällig häufig Glühbirnen. Manchmal surrt eine Libelle durchs Bild, und am Ende bleibt der Blick auf einem ziemlich großen Insekt haften, das es sich in einem an der Wäscheleine hängenden Paar Boxershorts gemütlich gemacht hat. Gleichzeitig im Schatten und in der Sonne. Wie Orozcos Arbeit: in der Wirklichkeit und ihrem Gegenbild. Martin Pesch
Bis 7.3., Portikus, Frankfurt a. M.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen