Kommentar: Beachtliche Fortschritte
■ Rot-Grün hat weniger ein politisches denn ein Darstellungsproblem
Die Hessen-Wahl ist für Rot-Grün verloren. Die SPD rudert beim Staatsangehörigkeitsrecht zurück. Der Atomausstieg liegt auf Eis. Schröder hackt auf Trittin herum, Trittin schlägt zurück. Wer bestreitet, daß die Regierung ein Chaos ist, muß entweder verückt oder Sympathisant sein.
Die Regierung, so heißt es, ist beim Staatsangehörigkeitsrecht eingeknickt, hätte der Unionskampagne mehr entgegensetzen müssen. Man kann es aber auch so sehen: Die Bundesratsmehrheit hat sich nun mal geändert. Der Gesetzentwurf läßt sich deshalb wahrscheinlich nicht durchsetzen. Ein Beharren auf der ursprünglichen Reform würde weiter polarisieren. Ressentiments gegen Ausländer würden gestärkt. Und ob es geholfen hätte, wenn die Regierung noch mehr Aufklärung betrieben hätte, ist keinesfalls ausgemacht.
Könnte es etwa sein, daß die Mehrheit der Bevölkerung einfach nicht so will, wie manche wollen? Nach Abwägung des Für und Wider mag jeder zu seiner eigenen Entscheidung kommen. Die Argumente für eine Modifizierung der Staatsbürgerschaftsreform sind Grund genug, um der Regierung eine respektable Entscheidung zugute zu halten. Statt dessen wird Rot- Grün niedergemacht, als würde allein die Opposition das Geschäft der Öffentlichkeit betreiben. Dabei geht völlig unter, daß auch die Reform, die übrigbleibt, einen beachtlichen Fortschritt darstellt.
Ähnlich ist es beim Thema Atom. Die Regierung ist zwar von ihrem Vorhaben abgerückt, die Wiederaufbereitung ab dem Jahr 2000 zu verbieten. Aber auch für dieses „Einknicken“ gab es respektable Gründe: Einige Kernkraftwerke hätten nur deshalb dichtmachen müssen, weil sie nicht mehr gewußt hätten, wohin mit den abgebrannten Kernelementen. Die Fronten zwischen Kernkraftbetreibern und Regierung hätten sich verhärtet. Es ist zwar richtig, daß sich die Regierung durch ihr Vorgehen blamiert hat – aber die Lust der Medien, sich am Streit zwischen Bundeskanzler und Umweltminister zu delektieren, verstellt auch den Blick darauf, daß immerhin der Einstieg in den Ausstieg beschlossen ist.
Einseitige, auf Abwägung verzichtende Kritik mag ihre Berechtigung haben. Wenn aber auf Kosten von Inhalten ständig nur das Negative hervorgehoben wird, geht eben auch positives Lebensgefühl verloren. Über Politikverdrossenheit sollte sich dann niemand wundern. Markus Franz
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen