: Glück stur im Visier
■ Eines der zwingendsten Rußland-Features der letzten Jahre: Pjotrs Luziks Film „Okraina“
Es wurde alles immer schlimmer“ – so beginnt der Erstlingsfilm des 1960 geborenen Pjotr Luzik. Es geht darin um den Rachefeldzug einer kleinen Gruppe von Dorfbewohnern, die man im Zuge der Privatisierung enteignet hatte. Bevor sie sich wieder glücklich auf ihre Traktoren schwingen und ihr Land bewirtschaften können, müssen sie noch einmal die ganze grausame Geschichte durchspielen.
Und die handelt von den früheren Bauernaufständen eines Stepan Rasin über alle Bürgerkriegs- greuel bis zum Verhandlungsbluff ausgeschlafener Kolchosbauern. Puschkin-Gedichte, alte Zeltlieder, die Erinnerung an die Weißen, die Faschisten – aber das Glück immer stur im Visier.
Und so fing alles an: Ölbohrer kommen ins Ural-Dorf Romanowsky. Die Dörfer rebellieren, müssen sich aber fügen. Man zeigt ihnen eine Urkunde mit vier Siegeln: die 14.000 Hektar ihrer ehemaligen Kolchose „Heimat“ hatte man erst in kleine Grundstücke aufgeteilt und dann verkauft – an wen, wußte niemand. Aber so waren Ungerechtigkeit und Absurditäten in ihr Dorf gelangt. Immer mehr junge Leute verdingten sich in der Stadt.
Ein paar Alte machen sich schließlich mit Folter und Mord auf die Suche nach der Wahrheit, die sie bis in die hauptstädtische Firmenzentrale eines Ölkonzerns (Lukoil?) führt. Als erstes ist der ehemalige Kolchosvorsitzende dran. Schließlich gesteht er: Mit Essen und Trinken, zwei alten Traktoren und einem Privatmotorrad hatten drei windige Geschäftsleute und ein gestandener Parteifunktionär ihn dazu gekriegt, das Land zu verkaufen. Nach seinem Geständnis schließt er sich der Veteranenbrigade an. Ein schwindsüchtiger Junge, den sie mitnehmen, reift dabei zum Mann.
Während es bei dem örtlichen Businessman ausreicht, ihm die Rippen zu brechen, müssen der Parteifunktionär und der Öl-Boß dran glauben. Anschließend nehmen sie die Sekretärin des letzteren auf dem Motorrad mit zurück ins Dorf, wo sie voraussichtlich Kolchos-Buchhalterin oder Agronomin wird. Wir haben es hierbei mit einer „strengen, fast absurden Fabel“ – vom schier ewigen Gegensatz zwischen Stadt und Land, Lohnarbeit und Kapital, „Maschinen und Wölfe“ (Boris Pilnjak) – zu tun.
Der Filmkritiker Igor Manzow schreibt über Luziks „Okraina“: „Man kann sich nicht mehr erinnern, wann zuletzt dem Menschen soviel Ehre in russischen Filmen erwiesen wurde.“
Und ein amerikanischer Rezensent meinte begeisternd: „Fraglos eines der zwingendsten Rußland- Features der letzten Jahre.“ Helmut Höge
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