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Unbeobachtete Lächelübung

Während alle Welt wieder an die Erzählung glaubt, beharrt Marthaler auf der Nichterzählbarkeit entwurzelter Existenzen. „Spezialisten“ am Hamburger Schauspielhaus  ■ Von Petra Kohse

Wenn Räume reisen könnten, käme man in denen von Anna Viebrock am weitesten. Ohne Sichtkontakt nach draußen muß die Geschwindigkeit wohl maximal sein, und wenn so viele Details von zu Hause im Gepäck sind, ist man sicher sehr lange unterwegs. Für das neueste Projekt mit dem Musiker und Regisseur Christoph Marthaler und der Dramaturgin Stefanie Carp hat Anna Viebrock im Hamburger Schauspielhaus jetzt gleich das Innere eines Gefährts erbaut. Eines riesigen Gefährts, eines Übergefährts. So groß, daß hinten ein Salon darin Platz hat, so endgültig, daß es vorne wie eine Mischung aus Flugzeug, Schiff und Bahn aussieht. Über den Kabinenschränken einer Boeing befindet sich die Kofferablage eines D-Zugs – in viereinhalb Meter Höhe. So absurd also auch, daß die Reise beginnen kann.

„Spezialisten“ heißt das neue Marthaler/Carp-Stück, „und es handelt vom Leben“, wie das Schauspielhaus in aller Schönheit formuliert. Wie bei „Murx ihn“ oder „Die Stunde Null“ hat man es wieder mit einer choreographisch- musikalischen Textcollage zu tun. Sie handelt vom Leben in Form von einer Leerstelle. Indem sie das Nicht-mehr-Lebendigsein thematisiert. Ein Pianist und elf Darsteller, von denen jeder sich selbst und den anderen Instruktor und Marionette ist. Programmierte und beliebig wiederholbare Gänge aufeinander zu und voneinander weg, willenlos, aber virtuos ausgeführte Tänzchen, zusammenhanglose und schnell verwehende Dialogfetzen („Wohin fahren wir eigentlich?“ – „Ich dachte wir fliegen!“ – „Haben wir Gepäck?“). Immer wieder hebt einer einen anderen hoch und hängt ihn an die Stange mit den Haltegriffen, wird einer in die Kabinenkoffer gestopft oder fallen die Tanzenden hin, als hätte man ihre Marionettenfäden plötzlich losgelassen.

Oder ihnen den Strom abgedreht. Oder sie einfach weggezappt. Resolut kichernd taucht regelmäßig eine Schaffnerin aus der Stewardessenkabine auf und richtet die Fernbedienung auf die Gruppe. Dann wird aus dem mechanischen Hin und Her ein Tango, der in ein Kyrie eleison übergeht, das sich unversehens in „Yes Sir, I can Boogie“ von Baccara verwandelt. Oder eine Comicszene beginnt. Oder psychohygienische Information („Wenn ich unter Streß leide, verlasse ich den Raum und führe unbeobachtet die Lächelübung durch“). Oder ein Durcheinander aus Fachsprech aus der Angestelltenwelt („Ich bin ein virtueller Organisationscharakter“). Oder, endlich, ein kleiner Hinweis auf das, was diese Welt zusammenhält. „Ich kann nichts vergessen“, flüstert der Dicke im Anzug dem grazilen Ladenmädchen zu. Wie viele jüdische Angestellte Karstadt Hamburg am 1. April 1933 entlassen habe, wieviel Verspätung irgendein Zug aus Berlin damals hatte – drei Stunden nur könne er schlafen und organisiere in der Restzeit die Informationen, die niemandem nutzen, aber an ihm kleben wie Pech.

Ein Spezialist. Ein ehemaliger. Nicht der einzige, der jetzt in einem Betriebskollektiv sein Leben fristet. Auch die Schweigerin, der Linksservierer oder die Stimmenimitatorin werden nicht mehr gebraucht und kreisen mit dem Erinnerer auf diesem Orbit des inneren Stillstands, den die moderne Welt wahrscheinlich „Flexibilität in der Arbeitsbereitschaft“ nennt. Aus Individuen hat die Konjunktur Pixel auf der Oberfläche des vollcomputerisierten Alltags gemacht, Lemuren des Standorts Deutschland. Und nur in ganz stillen Momenten entschlüpfen ihnen Visionen alternativer Wirtschaftsformen wie Charles Fouriers Idyll der genossenschaftlichen Arbeit oder gleich Texte von Karl Marx und Rosa Luxemburg.

Auf denkbar desillusionierte Weise befassen sich Marthaler und Carp hier mit dem Kollektiv. Sie beschreiben eine Zeit nach dem Individualismus, denn der Wirtschaft sind alle egal. Spezifisches gibt es über die Opfer der Rationalisierung nicht zu erzählen. Während fast die ganze Theaterwelt bis hin zu Frank Castorf derzeit auf die Erzählung setzt, auf Figuration und Kohärenz, beharrt Marthaler auf der Nichterzählbarkeit von Existenzen. Referierte Textpassagen wechseln mit Körperübungen, die sich so wenig Mühe geben, Sinnhaftigkeit zu vermitteln, daß sie geradezu als Kultus durchgehen. Der aber dann, auch wenn man in betrachtender Versenkung an ihm teilhat, auf nichts verweist als seine Herkunft aus der geistig- sozialen Obdachlosigkeit.

Ein Zirkelschluß des Stillstands im definitiven Beschleunigungsambiente. Und ein Konzept, in dem auch die ästhetische Attraktivität der Arbeit festsitzt wie die Fliege im Bernstein. Die typisch Marthalerischen Finessen: Kämpfe des einzelnen gegen Objekte oder eigene Ticks, die Eigendynamik der Choreographie und Musikalität – dies alles ist hier gefesselt, gebunden, reduziert auf den Rhythmus von Wiederholung und Stillstand allgemeiner Gesten.

So wird man bald selbst Teil des Unglücks, vor der Bühne sitzend und auf sie starrend wie auf eine Bahnhofsuhr. Man begreift, was sie zu sagen hat, erlebt aber auch nicht mehr als das Verstreichen von Zeit.

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