: Manhattan leuchtet
Mit der Queen Elizabeth 2, dem letzten Transatlantik-Luxusliner, in die Neue Welt. Höhepunkt der Atlantiküberquerung ist die Einfahrt in New York, ob am frühen Morgen oder in der Nacht ■ Von Hans-Christof Wächter
Westwärts, nicht anders. Auch eine Reise sollte, wie jede große Oper, nach dramaturgischen Kriterien aufgebaut sein, ihren Höhepunkt also im Finale erreichen. Ohne die szenischen Reize von Calshot Catle und der Isle of Wight, des Solent und der altehrwürdigen Hafenstadt Southampton, von Deck aus genossen, schmälern zu wollen: Gegen die Einfahrt nach New York können sie nicht an. Nicht nur sie nicht. Diese Ankunft ist unvergleichlich. Zu jeder Jahreszeit, bei jeder Wetterlage, Tageszeit und psychischen Verfaßtheit, zumal als Schlußakkord einer Reise, die selbst schon der Nimbus des Unvergleichlichen umgibt. Auch altgediente Crewmitglieder gestehen freimütig, noch immer und jedesmal wieder den „Knubbel im Hals“ zu spüren, wenn sich Manhattans Silhouette wie eine Erscheinung aus dem Wasserdunst materialisiert. Und es soll QE2- Stammgäste geben, die gerade und vor allem wegen dieser zwei Stunden zwischen „Land in Sicht“ und Andocken im Hudson River für ihre Reise in die USA die maritime Variante wählen. – Darum hier gleich zwei Spielarten des Höhepunkts. Die unübliche zuerst:
Ankunft I (Nachtvariante). Spätestens, als voraus wie eine Kirmesattraktion die Lichterbögen der Verrazano Narrows Bridge zwischen Richmond und Brooklyn aus der Dunkelheit heranglitzern, leeren sich die Restaurants schlagartig. In Erwartung des Ereignisses und angesichts des kalten Sauwetters hatte man sich fürs Farewell- Dinner erstmalig, allgemein und ohne jede offizielle Empfehlung zur Kleiderordnung „very informal“ entschieden und dicken Pullover, Regencape, Schirm und Kamera gleich mitgebracht. Im noblen Britannia Grill sieht es an diesem Abend aus wie in der Berghütte.
Trotz Regenböen und eisigem Wind stehen wir zu Hunderten eng gedrängt, bibbernd, aber unverdrossen unterhalb der Brücke auf dem schmalen und einzigen Rundumausguck mit Blick zum Bug oder entlang dem Bootsdeck, wo immer sich eine halbwegs windgeschützte Nische finden läßt; an steuerbord natürlich, denn dort würde das Manhattaen-Panorama abrollen. – Zuvor aber alle Augen links:
Wie klein sie ist! Kermitgrün leuchtend schwimmt sie backbords fern aus dem Dunkel und schnell auch schon wieder vorbei, das goldene Fackelfünkchen tapfer reckend. Eigentlich hätten wir Miss Liberty am frühen Morgen passieren sollen. Zwölf Stunden über der Zeit, wie blamabel! Commodore Burton-Hall wird nicht müde, sich für die unvermeidliche Verspätung zu entschuldigen, die widrigen Wetterumstände bemühend. Es gab Zeiten, geht die Cunard-Legende, als die Mauretania die Passage über den Atlantik in PünktlichkeitsdDifferenzen von maximal zehn Minunten absolvierte. Aber der zweitägige Sturm, sorry!
Zur Ehrenrettung der Cunarder sei gesagt: Das Schiff hätte die Verspätung spielend aufholen können: Die Durchschnittsgeschwindigkeit dieser Überfahrt lag bei wetterbedingten 26 Knoten, die normale Servicegeschwindigkeit jedoch ist 28,5 Knoten (52 km/h) und die maximale gar 32,5 Knoten (60 km/h). Noch immer ist die alte Dame QE2 in ihrer Kategorie – einrumpfig, schraubengetrieben – das schnellste Schiff der Welt. Daß der Kapitän nicht voll aufs Gaspedal gestiegen ist, war Rücksichtnahme gegenüber seinen Passagieren, die sonst in der auch nach Abflauen des Sturms noch rauhen See eine dauerschwankende Überfahrt zu bestehen gehabt hätten – und es war Rücksicht auf die Bilanz der Gesellschaft: Jeder Knoten mehr kostet unverhältnismäßig mehr. – Seien wir nicht kleinlich; ein zusätzlicher, geschenkter Tag auf dem Schiff der Schiffe. Zumal auch der Chef de cuisine die Situation mit Stil meistert und für die unvorhergesehenen Mahlzeiten ganz offensichtlich keine Reste zusammenkratzen muß. Wir werden sechsgängig verwöhnt wie gewohnt.
Manhattan glüht. Eine Kulisse so unwirklich wie Batmans Gotham City. Oder ein extraterrestrisches Mutterschiff, lautlos heranschwebend. Eine Begegnung der dritten Art. Zwangsläufig stellen sich die sciencefictionalen Assoziationen ein. Denn die futuristische Vision, die sich dort, auf dem Spiegel des Hudson schwimmend, präsentiert, kann keine reale Stadt sein: Über dieser Berglandschaft aus Millionen Lichtpunkten wabert ein geisterhaftes Leuchten, glüht auf, verlischt und materialisiert sich neu: Regenschleier, die in Böen über die Skyline wehen, im Widerschein der City reflektierend aufglühen und für Momente die himmelstürmenden Konturen der Haustüre aus der Schwärze heben.
Das Schiffstyphon orgelt zum letzten Mal seinen Baß, die von allen Seiten herantuckernden Schlepper tief unten antworten mit Serien schriller Pfiffe und pressen sich an Bug und Heck in die Seiten der Riesen, bugsieren sie zentimeterlangsam, punktgenau ins schmale Bett des Cunard-Kais. Eine sanfte, fast unmerkliche Berührung, ein letztes Vibrieren, das Schiff liegt still, ready for disembarkation.
Und dann stehen wir, mehrere hundert Passagiere, Upper Manhattans Häusergebirge vor uns, im nächtlichen Regen zwischen Koffern und Taschen. Und warten auf Taxis. Englisch diszipliniert, Nummernkärtchen in Händen, geduldig durchaus, jedenfalls in der ersten halben Stunde. Wir sind ja verspätet, die Logistik der Taxizentralen muß noch anlaufen, denkt man. Die Taxirufer pfeifen sich die Seele aus dem Leib. Alle fünf Minuten trudeln angelegentlich zwei, drei Wagen vor dem Terminal ein. Nach einer Stunde steht der Großteil von uns noch immer mit sehnsüchtigem Blick auf die erleuchteten Häuser jenseits des Hudson Parkway, in denen irgendwo ein room with a view, ein gemütlich klimatisiertes Hotelzimmer wartet, und man beginnt nun doch zu murren: Sind wir hier, Skyscraper hin oder her, in Oer- Erkenschwick, oder was oder wie?! – Doch, um Mitternacht schließlich, fast zwei Stunden nach Verlassen des Schiffs, haben wir's ins Hotel geschafft. Das liegt knappe zwei Kilometer entfernt; ein gemütlicher Spaziergang, bei Tag, ohne Gepäck, ohne Regen.
Ankunft II (Normalausführung). Sieben Uhr dreißig soll das Schiff – approximately – am Passenger Ship Terminal, Berth 3, Pier 90, at the foot of West 50th Street, festmachen. Das bedeutet, will man das ganze atemberaubende Programm miterleben, gegen halb sechs, noch ungefrühstückt und dickvermummt, an Deck zu sein.
Das Timing könnte perfekter nicht sein. Eben hebt sich die Nacht über dem Meer, die niedrige Küste von Coney Island und Staten Island enthüllt sich grau in grau voraus, punktiert durch die Lichter der Küstenstraßen. Über dem Horizont schwebt verheißungsvoll ein schwach violetter Schimmer. In weitem Bogen schwenkt die QE2 nach Norden in die Lower Bay, passiert die Verrazano Narrows Bridge, und Hunderte weltbefahrenen Passagiere schauen trotzdem aufmerksam nach oben, zu sehen, ob sie durchkommt. In der Tat scheinen zwischen Mast und Brücke nur Zentimeter Platz zu bleiben. Die Möwe auf der Mastspitze (62 Meter) die unmittelbar vor dem Rendezvous aufgeregt schreiend davonflattert, erntet Beifall und Gelächter.
Hinter der Brücke weiten sich spiegelglatt die stillen Wasser der Upper Bay. Keine atlantische Dünung mehr, kein Wellengang, der Ozean ist überwunden. Fern voraus liegen klein und gezackt die Silhouetten von Hoboken, Manhattan und Brooklyn. Dort in steuerbord, irgendwo hinter Queens, schiebt sich gerade orange der Sonnenball über den Horizont und färbt den Himmel, das Wasser glühend rot in allen Schattierungen, das hohe Himmelsviolett über den Zenit nach Westen drängend. Das große Schiff reduziert die Geschwindigkeit weiter, gleitet lautlos voran, als wolle es den magischen Moment nicht stören, und auf den Decks wird es still.
Was kann man auch sagen vor diesem Bild. Eine Riesenstadt, krude, laut und hektisch, verklärt zur leuchtenden Vision; eine flache ölgefleckte Bucht, gesäumt von Vorstadtgewucher und Industriegewirr, verwandelt zur lichtüberfluteten, magisch weiten Bühne. Sieht man das Bild, die Vorstellung, die Oper zum ersten Mal, steht man gebannt, auch vor Überraschung. Trotz aller Schilderungen, die man kennt: Das hatte man nicht erwartet. Sieht man es zum wiederholten Mal, kommt das Moment der Vorfreude auf das zu erwartende Ereignis dazu. Sieht man es dann sogar gemeinsam mit einem geliebten Menschen, für den es Premiere ist, bildet sich der Anblick wieder um. Man sieht das Bekannte neu, das überwältigende Staunen des anderen vertieft das Bild noch einmal mehr. Der eigene Blick gewinnt die Neugier der ersten Begegnung zurück; dazu den Blick der Liebe.
Die enggedrängte Stadtinsel schwimmt näher, entfaltet sich ins Vertikale, der Sonnenball steigt hinter der gezackten Kulisse, gewinnt goldene Kraft, zeichnet die Konturen der Türme scharf vor leuchtendem Himmel und läßt ihre gläsernen Flanken metallisch aufspiegeln. – Die Freiheitsstatue, wie fern und klein wieder, eine folkloristische Beigabe am Rande, und daneben auf Ellis Island das Hoffnungs- und Schreckenshaus, rotweiß türmchengekrönt, heiter verspielt wie ein Petersburger Zarenschlößchen, doch schicksalhaftes Nadelöhr für Millionen Mühselige und Beladene, die von dort in Sichtweite voraus, Manhatten greifbar nah, ein neues, ein menschenwürdiges Leben erst eigentlich beginnen wollten, wenn man sie denn ließe.
In den Straßenschluchten der City liegen graue Nachtschatten, doppelt düster unter dem klaren Licht des frühen Morgens. Die Stadt scheint noch zu schlafen. Doch als die Queen die Mündung des Hudson in die Bay erreicht und die Zwillingstürme des World Trade Center in ihrer ganzen babylonischen Höhe über uns aufragen, hören wir die Stimme der Stadt. Ein stetes, monotones Rauschen. Auf dem Westside Highway hinter den Piers fließt parallel zum Flußufer ein unendlicher Autostrom in die City. New York bereitet sich auf den Tag vor. – Auch über uns wird es lebendig. Erst einer, dann einer nach dem anderen schießen Helikopter aus dem Stadtgewirr in den Himmel und halten auf das Schiff zu, als wollten sie es attackieren. Und das tun sie auch. Deutlich können wir die Teleobjektive auf uns gerichtet sehen, während eine Maschine nach der anderen ohrenbetäubend knatternd ihren „take your picture now“-Zirkel schlägt, ehe sie weiterzieht nach Süden Richtung Battery Park. „Manhattan Scenic Flights“, beliebt besonders bei japanischen Touristen, heute morgen sicher mit QE2-Arrival-Aufschlag.
Mit majestätischer Gelassenheit, die Motten ums Licht ignorierend, zieht das große Schiff seine lautlose Bahn, die letzte Meile zum angestammten Pier. Schon löst sich ein Halbdutzend Schlepper vom Ufer, wendig und kraftstrotzend, die Ozeanriesin in ihr enges Bett zu schieben. Vorbei an den Chelsea Sports Piers mit ihrer 300 Meter in den Fluß ragenden Driving Range, einem riesigen Drahtkäfig, in dem das golfende New York sein Handicap verbessert, und vorbei noch an der Intreprid, zum Floating Museum umgebauter Flugzeugträger mit Weltkrieg-II-Vergangenheit. Der Passenger Ship Terminal kommt in Sicht.
Die aufgeregten Pfiffe der Schlepper, das letzte Röhren des Schiffstyphons, die sanfte Berührung, das Vibrieren, die plötzliche Ruhe, das ganze spannende Ritual. Wie gehabt, ob Tag oder Nacht, siehe oben. Angekommen. – Und ruhige Zeit noch zum Abschiednehmen von unserer, sich ihres (Geld-)Wertes wohl bewußten, aber großzügigen Gastgeberin. Erst wenn alles Gepäck von Bord gebracht und in der Halle akkurat aufgebaut ist, gibt es Landgang für die Passagiere. Das braucht seine anderthalb Stunden. Auch diese letzte ausklingende Reise-, Ankunfts-, Abschiedsphase ist frei von aller Hektik: Denn daß wir nicht die Absicht haben, uns „an strafbaren oder unmoralischen Handlungen zu beteiligen“, haben wir den mitgereisten Beamten des US Immigration Service bereits gestern schriftlich gegeben.
Viel Zeit also für ein letztes Schlendern durch die Promenaden, über die Decks. In den lächelnden Abschiedsblicken aller Begegnenden eine kleine Wehmut: Allzu oft, wenn überhaupt, werden die meisten von uns wohl nicht noch einmal zu Gast sein auf der Königin der Meere. Wie sagt die Cunard-Werbung: A once in the lifetime.
Dafür, daß wir nicht in Gefühligkeit wegschwimmen, sorgt die Taxifrage. Dasselbe Spiel wie seinerzeit bei Nacht. Ja, wo sind wir denn hier... In New York City, in Manhattan, siehe oben. Geduldiges Warten und kurz vor high noon denn doch im Hotel. – Im Wagen verdrehen wir die Köpfe, einen letzten Blick auf unser Schiff zu erhaschen. Auch vor dem Anbordgehen in Southampton hatten wir es ja kaum wirklich gesehen. In seiner begeisternden äußeren Gestalt, den vielgerühmten schlanken Linien, kennen wir, die wir schließlich auf ihm gereist, es eigentlich gar nicht. Wir beschließen, am Abreisetag zur Abfahrtsstunde des Schiffs drüben auf Ellis Island zu sein, um einmal die Queen an uns vorbeiziehen zu sehen in aller Majestät. Vor der Silhouette Manhattans. Ihr nachzuwinken. Long may she sail.
Hans-Christof Wächter lebt als Schauspielregisseur, Autor und Reisejournalist in Berlin. Der hier veröffentlichte Textauszug ist eine Kostprobe aus seinem neuesten Buch, das demnächst im Buchhandel erscheint: „Transatlantische Passage – mit der QE2 in die Neue Welt“, Picus Lesereisen, 132 Seiten, 26 Mark
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