: Ein Blick zurück für namenloses Elend
Rund um die Köpenicker Seen war das größte NS-Zwangsarbeitslager von Berlin und Brandenburg. Die Ausstellung „Arbeit für den Feind“ im Museumspark Rüdersdorf arbeitet die verschwiegene Geschichte auf ■ Von Henrike Thomsen
An den Müggelsee fährt man, um mal auszuspannen. Man verbummelt den Tag am Strand, in Cafés und im Wäldchen. Ein Gedanke an die Tradition erhöht die Behaglichkeit: Erholt man sich hier nicht schon seit Fontanes Zeiten?
Doch im Zweiten Weltkrieg stand im Stadtforst südöstlich von Köpenick das größte Zwangsarbeitslager von Berlin und Brandenburg. Hunderttausende Verschleppte aus ganz Europa wurden von hier in die Rüstungsbetriebe verschickt, wo sie in Schichten bis zu 14 Stunden täglich Akkordarbeit leisteten. Selbst die Strandcafés am Großen Müggelsee dienten als Quartiere, als das Barackenlager, an das heute nur noch einige überwachsene Fundamente und eine Betonrampe hinter den S-Bahn-Gleisen nach Erkner erinnern, nicht mehr ausreichte. Eine Ausstellung im Museumspark Rüdersdorf erinnert an diese oft vergessene Geschichte.
Vom Institut für Europäische Ethnologie der Humboldt-Universität mit Leihgaben von Zwangsarbeiter-Verbänden zusammengestellt, lebt die Ausstellung vom Blick fürs Detail. Die historischen Fakten werden knapp und übersichtlich präsentiert. Insgesamt ließ Rüstungsminister Albert Speer rund sechs Millionen „Zwangs- und Fremdarbeiter“ nach Deutschland deportieren. 1943 lief die Rüstungsindustrie auf Hochtouren, und im Herbst des Jahres gab es eine halbe Million „Zwangs- und Fremdarbeiter“ in Berlin und Brandenburg (die Fremdarbeiter waren unter Druck angeworben worden). Sie verteilten sich auf 26 Lager um die Köpenicker Seen, von denen Wilhelmshagen als Auffang- und Durchgangslager das größte war. „Wie auf einem Markt feilgeboten, kamen die ausgesuchten Arbeiter in die Wohnlager ihrer Betriebe.“
Die versammelten Dokumente und Objekte und historische Tafeln sind zwar ein wenig spröde, doch in ihrer Inszenierung ist es Jürgen Freter und Stefan Walter gelungen, diese Zeitdokumente wahrhaft und lebendig sprechen zu lassen. Obwohl nur wenige aussagekräftige Splitter zu den verschiedenen Aspekten präsentiert werden, fokussiert sich darin das ganze Ausmaß der Geschichte. Um die bestialischen Deportationsmethoden in Osteuropa deutlich zu machen, genügen zum Beispiel eine Handvoll Fotos von brennenden Dörfern und vom Verladen der Arbeiter auf den Bahnhöfen, zusammen mit kurzen Zitaten aus Zeugenaussagen.
Das Interesse der Ausstellungsmacher gilt dem Zusammenhang von Systematik und Perversion im Lagersystem der Nazis. Auffällig viele Fotos zeigen Beamte, wie sie die Namen der Deportierten ohne einen Blick für das namenlose Elend registrieren. Eindringlich zeigt sich die ausgefeilte Absurdität des Nazi-Systems auch in der Rationierung der Nahrung, in der sich die „Wertschätzung“ der Opfer bis auf ein halbes Gramm genau nach Herkunftsländern staffelt.
Zu den Privilegien der Westeuropäer gehörte, daß sie teilweise außerhalb des Lagers und sogar privat untergebracht wurden. Die Schnappschüsse der Glücklichen mit ihren Köpenicker Nachbarn, die im übrigen belegen, daß man von der Anwesenheit der Zwangsarbeiter wußte, stehen kraß gegen das unmenschliche Schicksal der Osteuropäer ab. Ein Schreiben des Gauarbeitsamts Berlin zum Beispiel, dem zufolge Baracken regelmäßig „vergast“ wurden, um sie „ungeziefer- und seuchenfrei“ zu halten, erinnert an Goebbels' perfide Hygiene-Analogien, die den Holocaust rechtfertigen. Der Gipfel des Zynismus sind die Beileidsbekundungen der Preussag AG an den Vater eines Polen, der bei einem Luftangriff ums Leben kam: „Er gehört nun zu den Gefallenen des großen Zweiten Weltkriegs...“ Von den 30.000 Berliner Bombentoten, die man am Ende des Kriegs zählte, sollen rund ein Viertel Zwangsarbeiter gewesen sein.
„In Wilhelmshagen war überhaupt nichts“, erinnert sich ein Überlebender in einem Videointerview. Er meint es mit Blick auf die materielle Ausstattung und das Kulturangebot. Um so besser, daß die Ausstellung die schwer greifbaren Realitäten der Lagerwelt, die später zusätzlich verdrängt und verschwiegen wurden, eindrucksvoll greifbar macht. Kuratorin Leonore Scholze-Irrlitz möchte damit einen Beitrag zur aktuellen Entschädigungsdiskussion leisten. Die Forderungen der tschechischen und polnischen Zwangsarbeiter-Verbände würden häufig als überzogen dargestellt. „Ein Blick in die Geschichte relativiert diesen Eindruck ganz schnell“, meint die Wissenschaftlerin. Glücklicherweise stößt die Ausstellung auf großes Interesse. Sie soll weiter in Köpenick und Ludwigsfelde gezeigt werden. Auch Bundestagsvizepräsidentin Antje Vollmer, die sich seit Jahren um eine Stiftung zur Entschädigung für NS- Zwangsarbeiter bemüht, ist an einer Übernahme interessiert.
„Arbeit für den Feind. Zwangsarbeiter-Alltag in Berlin und Brandenburg 1939–45“. Die Ausstellung ist bis zum 6. April 1999 im Museumspark Baustoffindustrie Rüdersdorf täglich von 10 bis 17 Uhr zu sehen. Anfahrt mit der S 3 (Richtung Erkner) bis Friedrichshagen, dann mit der Straßenbahnlinie 88 (Richtung Rüdersdorf) bis Heinitzstraße.
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