: Der Weiße Tod schlägt zu
■ Die Alpen versinken im Schneechaos. Über 100.000 Menschen sind von den Schneemassen eingeschlossen. Im Tiroler Galtür fanden mindestens 16 Menschen den Lawinentod, 30 werden noch vermißt. Schon wird von dem Jahrhundertwinter gesprochen. Doch die Gefahr ist noch lange nicht gebannt. Jeden Moment können neue todbringende Lawinen abgehen.
Die Stimme von Toni Stöckel zittert am Telefon: Tag und Nacht ist der Besitzer des „Sportzentrums“ in Galtür auf den Beinen, „das waren die schlimmsten Stunden in meinem Leben“. Und wie viele Stunden noch vor ihm liegen, in denen er zusammen mit Dorfbewohnern und Urlaubern nach Vermißten suchen und Verletzten helfen wird, weiß er am Mittwoch morgen noch nicht.
Am Dienstag um 16 Uhr hatte eine Lawine zehn Häuser in der Dorfmitte von Galtür in Sekundenschnelle zerstört. Bis gestern nachmittag waren 16 Tote geborgen. Als die Lawine kam, saß Stöckel im Büro seines Sportzentrums. „Ich hörte nur dieses Grollen und wußte, das wird schrecklich.“ Einige Jahre zuvor war der 55jährige selbst von einer Lawine mitgerissen worden. „Mein einziges Glück war damals, daß sie mich nach oben gespült hat.“ Seitdem kennt er die Wucht der weißen Walze.
In Galtür im Tiroler Paznauntal, wo außerhalb der Urlaubssaison nur 850 Menschen wohnen, waren zum Zeitpunkt des Lawinenunglücks alle Häuser belegt. Wer Hände hatte zu graben, half sofort, nach Überlebenden zu suchen. Bis zum Abend konnten 20 Menschen lebend geborgen werden. Leichtverletzte brachte man zu Stöckel in die Tennishalle, die Schwerverletzten liegen in der Halle nebenan. Zehn Ärzte, neun davon als Urlauber in Galtür, kümmerten sich in der Nacht um die Opfer. „Wir mußten improvisieren, aber dennoch war für alle gesorgt“, sagt der erschöpfte Stöckel.
Weder über die Straße noch durch die Luft war Galtür am Tag der Katastrophe erreichbar. Als schließlich 15 Stunden nach dem Lawinenabgang, gestern am frühen Morgen, die ersten Hubschrauber landen konnten, gab es für die immer noch 30 Vermißten kaum noch Überlebenschancen. In der Nacht war die Temperatur auf minus 13 Grad gesunken. „Da drinnen“, sagt Stöckel, „gebe ich niemanden mehr eine Chance“. Er hat den Satz kaum beendet, da muß er vom Telefon weg – „Sie haben noch jemanden geborgen.“
Auf Beschluß der Tiroler Landesregierung in Innsbruck wurde Galtür gestern für Journalisten gesperrt. Der Luftraum über dem engen Tal muß für Versorgungsflüge offengehalten werden. Um mehr Urlauber auszufliegen, forderte das österreichische Bundesheer gestern Großraumhubschuber der deutschen Bundeswehr an. Das Sportzentrum glich am Morgen einer Flughafenabfertigungshalle: Mehr als 600 geschockte Touristen warten sehnsüchtig auf ihren Abflug.
Szenenwechsel: Im Nachbarort Ischgl sitzen seit einer Woche etwa 7.000 Feriengäste fest. Frühmorgens kann man jeden Tag das gleiche Ritual beobachten. Die Männer bewaffnen sich mit einer Schaufel und räumen ihr eingeschneites Fahrzeug frei. Dann kehren sie den restlichen Schnee vom Autodach, gehen zurück in die Hotels und schauen zu, wie ihr Wagen wieder einschneit.
Als am Montagnachmittag die Nachrichten aus Galtür eintreffen, schlägt die allgegenwärtige schlechte Laune in Angst um. Etliche Urlauber fangen an, auf die Behörden zu schimpfen, die angeblich viel zu spät gewarnt hätten oder die nicht alles täten, sie hier herauszuholen. Eine Familie aus Stuttgart fühlt sich „verarscht“. Man hat sie vor vier Tagen aus einem lawinengefährdeten Ferienhaus per Hubschrauber evakuiert – nach Ischgl. Jetzt sitzt sie hier fest. Wie dieser Familie geht es vielen. Ischgl quillt über. Eine Veranstaltungshalle ist als Notquartier eingerichtet worden. Darin meldeten sich gestern auch zehn junge Urlauber aus Deutschland und Holland, denen durch den Zwangsaufenhalt in dem Edel-Skiort das Geld ausgegangen war. Nun bekommen sie Matratze und Decke umsonst. In den Regalen der beiden Supermärkte werden die Lücken größer, nur Champagner gibt es noch reichlich. Nach Feiern ist niemandem mehr. Die Skianlagen sind wegen Lawinengefahr außer Betrieb; im einzigen Kino läuft mangels Nachschub immer nur ein Film: „Seite an Seite“.
Wie jeden Morgen, warteten auch gestern früh viele Feriengäste am Hubschrauberlandeplatz auf eine Chance, aus Ischgl wegzukommen. Als ihnen ein Gemeindebediensteter sagt, daß wegen der Katastrophe im Nachbarort an diesem Tag kein Helikopter käme, beginnen manche vor Wut zu weinen. „Seien Sie doch froh, daß Sie noch leben“, sagt ein Mann.
Im Tourismusbüro, das wegen Lawinengefahr vom Rand des Ortes in die Gemeindehalle verlegt wurde, sitzen junge Mitarbeiterinnen, die alle angelernte Freundlichkeit verloren haben: „Nein, die Straße wird auch heute nicht geöffnet, nein, wann sie geöffnet wird, können wir auch nicht sagen.“ Wie geschlagene Hunde verlassen die meisten das Büro und haben dann nur noch eine Hoffnung: Wuchers Liste. Reinhold Wucher, privater Flugunternehmer in Tirol, hat Wartelisten angelegt, wer wann in seinem kleinen Hubschrauber Platz nehmen darf. Könnte er fliegen, bis Montag nächster Woche wäre er ausgebucht. Doch er kann nicht, oder er darf nicht. Mal ist das Wetter zu schlecht, mal sperrt die Landesregierung den Luftraum über dem Paznauntal, um die Versorgungsflüge nach Galtür nicht zusätzlich zu gefährden.
Gestern früh klart das Wetter plötzlich auf, der Blick auf die Berghänge ist für ein paar Stunden frei – ein Blick, der schauern läßt. Die Lawinenschutzzäune sind kaum noch zu erkennen. Zwei kleine Lawinen sind in der Nacht seitlich von Ischgl ins Tal gesaust.
In diesen wenigen klaren Morgenstunden fliegt ein Helikopter der österreichischen Bergwacht über die 3.000 Meter hohen Gipfel des Paznauntals und versucht, Lawinen dort zu sprengen, wo sie ungefährlich abgehen können. Doch das Ergebnis war kläglich. Am späten Nachmittag war es soweit: Eine Lawine ging auf den Ort nieder. Die ersten Meldungen sprachen von fünf Verschütteten.
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