: Die gelebte Kamera
■ Auf der Suche nach einer internationalen und absoluten Kinosprache: Das Metropolis widmet heute den revolutionären Gebrüdern Kaufmann einen ganzen Tag
Schwarz-Weiß. Scharfe Kontraste. Schnelle Wechsel der Bilder. Virtuose Montagen. Alles was es 1929 in Kiew zu beobachten gab, hat Der Mann mit der Kamera eingefangen: Ein Junge in Lumpen erwacht auf der Straße, ein Zug rast dahin, Telefonistinnen stecken Kabelverbindungen, Maschinen rotieren, Straßenverkehr tobt, ein Kino füllt sich, der Kameraman versinkt im Bierglas.
Diesen Dokumentar- und Experimentalfilm nebst vier weiteren Arbeiten der Gebrüder Kaufmann zeigt das Metropolis in einer kleinen Werkschau. Der Mann mit der Kamera ist Michail Kaufmann, der unermüdlich agierte, um ungesehene Perspektiven zu finden. Sein Bruder David, der sich Dziga Vertov nannte, führte die Regie. Wie Vertov es formulierte, wollten die Brüder mit diesem „Tagebuch eines Kameramannes“ formal „eine internationale, absolute Kinosprache schaffen, basierend auf der völligen Unabhängigkeit von der Sprache des Theaters und der Literatur“. Das war neu, nicht nur in der Sowjetunion. Dafür verließen sie die „attrappenreiche Filmfabrik“, schulterten ihre Kameras und drehten vor Ort Szenen, die ohne ihr Zutun vor ihren Augen passierten. Sie nannten sich „Filmäugler“ und erhoben die Kamera zum Leben selbst. Ihr Filmstil wurde zur Avantgarde eines neuen Dokumentarfilms, der Experimente einschloß.
Die Fortsetzung des filmischen Tagebuchs folgt: 1929 drehte Michail Im Frühling. Sein Filmauge läßt die aufwachende Natur in alltäglichen Bildern pulsieren, es beobachtet das Tun der Landarbeiter und ist fasziniert von Maschinen, die auch hier als Symbol des jungen, vorwärtsstrebenden Staates gelten.
Das Schaffen der drei Brüder Kaufmann dokumentiert der Hamburger Filmemacher Rasmus Gerlach in seinem Porträt Operator Kaufmann. Während Michail und David weiterhin in der Sowjetunion mehr oder minder propagandistisch gefärbte Dokumentarfilme machten, war der jüngste Bruder Boris bereits seit den Zwanzigern in Paris als Kameramann aktiv, wo er zusammen mit Jean Vigo drei legendäre Filme drehte, darunter A propos de Nice.
Von Boris steht der 1954 mit acht Oscars ausgezeichnete Klassiker Die Faust im Nacken auf dem Programm, denn ein Oscar ging für die Kamera an ihn. Marlon Brando spielt hier einen jungen Hafenarbeiter, der bei Bandenkämpfen zwischen die Fronten gerät. Das auf Tatsachenberichten basierende Sozialdrama nahm Boris Kaufmann nur an Originalschauplätzen auf – in den Hafendocks, im Taubenschlag auf den Dächern New Yorks. So setzte er die Tradition seiner Brüder in grandios realistischen Bildern fort.
Gyde Cold
„Der Mann mit der Kamera“ + „The Gentleman In Room Six“, heute, 17 Uhr. „Operator Kaufmann“, 19 Uhr. „Die Faust im Nacken“, 21.15 Uhr, Metropolis
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