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Diskussion über ein Tabuthema

Bei einer Veranstaltung über Illegale in Berlin wurde die Senatspolitik kritisiert, die das Problem ignoriert und auf Wohlfahrtsverbände abschiebt  ■ Von Barbara Bollwahn de Paez Casanova

Alle wissen, daß es sie gibt. Doch statt sich der Realität zu stellen, wird von offizieller Seite so getan, als existierten sie nicht, die etwa 100.000 Illegalen in Berlin. Um auf deren Arbeits- und Lebensbedingungen aufmerksam zu machen, fand am Dienstag abend im Abgeordnetenhaus auf Initiative des Instituts für Vergleichende Sozialforschung eine Podiumsdiskussion mit Vertretern vom Landesarbeitsamt, dem Bundesgrenzschutz, der Bauindustrie, dem DGB und dem Caritasverband statt.

In der Auftaktveranstaltung einer von der Heinrich-Böll-Stiftung, der SPD und Bündnis 90/Die Grünen organisierten Reihe von „Gesprächsforen zur Migrationspolitik“ sollte der zukünftige Umgang mit Illegalen in Berlin diskutiert werden. Der ausländerpolitische Sprecher der Grünen, Ismail Kosan, äußerte eingangs die Hoffnung, daß die Ergebnisse bei einem Erfolg von Rot-Grün zur Abgeordnetenhauswahl im Oktober in die Inmigrantenpolitik einfließen könnten.

Daß Handlungsbedarf besteht, wurde schnell in der von 200 Zuhörern besuchten Runde deutlich: Jochen Blaschke vom Institut für Vergleichende Sozialforschung kritisierte, daß die Berliner Verwaltung „wenig Aufnahmefähigkeit für die Debatte“ zeige, obwohl „die Illegalität in der Inmigration eine der großen Fragen des nächsten Jahrzehnts ist“. Es sei überraschend, daß die „wenig erfolgreiche Integrationspolitik bis auf ein paar Konjunkturen des Faschismus“ keine Gewalt hervorgerufen habe. Erich Steiner vom Caritasverband wies darauf hin, daß Illegale „eine feste Größe“ in der Stadt seien – Tendenz steigend. Doch im Gegensatz zu den Wohlfahrtsverbänden blieben die Politiker untätig. „Der Senat darf sich der Verantwortung nicht entziehen“, mahnte Steiner. Seine Hauptforderungen: Soziale Mindeststandards „gegen ein Abgleiten in Grauzonen“ und medizinische Versorgung ohne Denunziation. Steiner forderte außerdem eine „Enttabuisierung auf politischer Ebene“ und Altfallregelungen für langjährige Illegale.

Uneinigkeit herrschte darüber, in welchen Branchen die schlechtbezahlten Illegalen hauptsächlich unterkommen. Michael Knipper vom Hauptverband der deutschen Bauindustrie widersprach Ingeborg Grötzbach vom Landesarbeitsamt und Petra Meyer vom DGB, die die Baubranche an erster Stelle nannten. „Etwa 80 Prozent der Illegalen haben private Arbeitgeber“, sagte Knipper, der „ein klares Einwanderungsgesetz“ forderte. „Maximal 20 Prozent“ seien auf dem Bau tätig. Im Großraum Berlin handele es sich um etwa 30.000 Arbeiter, meist ehemalige offizielle polnische Bauarbeiter.

In der anschließenden Diskussionsrunde sprach Susanne Weller vom Diakonischen Werk von „einer Doppelmoral“. Während die Asylbewerberzahlen zurückgingen, nehme die Illegalität von Flüchtlingen zu. „Auf Senatsseite wird darauf aber nicht reagiert“, beklagte sie. Klaus-Jürgen Dahler, PDS-Fraktionsvorsitzender in Hohenschönhausen und Mitarbeiter einer Beratungsstelle, nannte die Senatspolitik „verlogen“: „Wir sollen auffangen, was die Sozialämter nicht tun“, beschrieb er das Dilemma des Asylbewerberleistungsgesetzes.

Ismail Kosan versprach zum Schluß „eine humanere Gestaltung“ des Asylbewerberleistungsgesetzes, sollte es im Herbst zu einem Wechsel kommen. Doch allein die Tatsache, daß die angekündigte SPD-Abgeordnete der Runde fernblieb, läßt daran Zweifel aufkommen.

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