Otto Weidts Liste

■ Ein Berliner Bürstenfabrikant rettete zahlreiche Juden vor dem Tod. In einer Ausstellung haben Studenten jetzt die Verstecke von damals rekonstruiert und wieder zugänglich gemacht

Heute weiß man von 1.400 Juden, die, in Berlin versteckt oder untergetaucht, den Deportationen der Nationalsozialisten entkamen. Einer, der in dieser Zeit ein großes Organisationstalent entwickelte, war der Berliner Otto Weidt, in dessen Bürstenfabrik vor allem Blinde arbeiteten. Es gelang ihm immer wieder, „seine Blinden“ vor der Verschleppung zu bewahren und sogar aus einem Sammellager der Gestapo zurückzuholen.

„An der Spitze seiner Blinden, die untergehakt hinter ihm liefen und den Judenstern an ihren Lederschürzen trugen, ging er zu Fuß zur Werkstatt zurück“, beschrieb die Journalistin Inge Deutschkron in ihrem Buch „Ich trug den gelben Stern“ diese Szene. Sie arbeitete seit 1941 als Schreibkraft bei Otto Weidt, der ihr mit Werkausweisen zu einer neuen Identität verhalf. Seit über zehn Jahren um eine Anerkennung Weidts, „der für uns sein Leben eingesetzt hat“, bemüht, freute sich die Schriftstellerin gestern, endlich eine Ausstellung zu seinen Ehren eröffnen zu können. Eingerichtet wurde sie von sechs Studenten, die an der Fachhochschule für Technik und Wirtschaft den Studiengang Museumskunde belegen.

Durch Zufall hatten die Studenten von der ehemaligen Blindenwerkstatt in der Rosenthaler Str. 39 erfahren, deren Räume seit Kriegsende teilweise unverändert geblieben waren. Gleich neben dem glänzenden Areal der Hackeschen Höfe haben ungeklärte Besitzansprüche eine Sanierung bisher verhindert. Schutt und Müll lagen in den Werkstatträumen, die in der Nachkriegszeit als Lager gedient hatten, als die Studenten sich an die Wiedergewinnung des authentischen Ortes machten.

An einer Wand hängt ein ausgefranster Judenstern. Er stammt von Hans Isrealowicz, der den Studenten auch seine alte Schuhbürste aus dieser Werkstatt überließ. Er stand eines Tages während der Ausstellungsvorbereitungen im Hof, nach 55 Jahren zum erstenmal an seine ehemalige Arbeitsstätte zurückgekehrt.

Vor der Tür zur hintersten Kammer der Werkstatt erschwert ein Holzgerüst den Zugang. „Damit wollten wir diese Schwelle als besondere Grenze markieren“, erzählt Kai Gruzdz, denn von Februar bis Oktober 1943 versteckte Weidt dort die Familie des Bürstenmachers Chaim Horn. Erst als dieses Versteck durch einen Verrat aufflog, versagten Weidts Mittel.

Wie er es bis dahin durch Schwarzhandel und Wehrmachtsaufträge überhaupt geschafft hatte, die Bestechungssummen für die Gestapo aufzutreiben, blieb sein Geheimnis.

Die Ausstellung erzählt auch eine Liebesgeschichte zwischen Weidt und der jungen Alice Licht. Als er ihre Deportation nicht mehr verhindern konnte, folgte er ihren Spuren bis nach Auschwitz. Ein Brief zeigt sein Angebot an „Baracken-“ und „Hofbesen“, mit dem er Zugang zum Lager zu erhalten hoffte.

Liest man die Geschichten der Untergetauchten, stellt sich immer wieder die Frage, ob nicht viel mehr an Widerstand und Zivilcourage möglich gewesen wären. Sie stellen die Entschuldigungen der schweigenden Mitläufer in Frage; das scheint einer der Gründe für ihre Marginalisierung in der deutschen Geschichtsschreibung zu sein. Katrin Bettina Müller

„Blindes Vertrauen“. Rosenthaler Straße 39, 10178 Berlin, Mi.–Fr. 15–18 Uhr, Sa. u. So. 11–18 Uhr, bis 4.April