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Trauriger Norden

In Finnland wurde eine eigene Art des Tangos kultiviert: als Musik ernsthafter Traurigkeit, als Tanz der niederen Klassen und als Antwort auf Beat und Beatles  ■ Von Jan Feddersen

Seinäjoki hat selbst für finnische Verhältnisse nicht viele Einwohner. Die Kleinstadt liegt gen Norden fünf Bahnstunden von Helsinki und dreißig Minuten vom westlich gelegenen Meer entfernt. Sie ist von dichten Wäldern umgeben und hat die wichtigste Abfüllstation einer bekannten Wodkafirma in der Nachbarschaft.

Im Sommer, wenn die Nacht sich vom Tag nur einen durch einen dunklen Schimmer unterscheidet, ist Seinäjoki, kulturell gesehen, der prominenteste Ort Finnland. Dann kommen 150.000 Männer und Frauen, im Caravan meist, denn Hotelbetten gibt es nur 120. Gegeben wird das Tangofestival. Drei Tage wird getanzt und getrunken. Das Fernsehen ist zwar live dabei, überträgt die Tanzturniere und Gesangswettbewerbe um die Krone eines Tangokönigs und einer Tangokönigin. Aber an Ort und Stelle zu sein ist vielen Finnen ein Bedürfnis.

Hier im mittleren Westen des Landes ist dann alles wie früher, also MTV-frei. Und finnischer Techno, auf dessen Entwicklung Haupstadt-DJs wie Rauli und Paavo mächtig stolz sind, wird in Seinäjoki auch nicht gern gehört. Dafür Tango.

Im Land selbst hält sich das Gerücht, ein finnischer Seemann habe den Tango Mitte des vorigen Jahrhunderts erst nach Uruguay und Argentinien eingeführt. Die Lateinamerikaner hätten dessen Bandoneonspiel nur etwas aufgepeppt – und schon war aus dem schwermütigen Tankko finnischer Art der Tango argentinischer Provenienz geworden.

Tatsache ist wohl, schenkt man der einschlägigen Forschung Glauben, daß dieser Tanz um den Ersten Weltkrieg herum nach Finnland kam, strikt ins Moll abgesenkt und etwas vom Tempo genommen wurde. Anders als beim argentinischen Tango ist bei der finnischen Variante der Text gleich wichtig.

Sänger wie Olavi Virta, Markus Allan, Reijo Taipale und Eino Grön waren die Stars. Sie sangen von Einsamkeit, Liebe, ihrer Vergeblichkeit und der Suche nach einem „Märchenland“ („Satumaa“). Heroen der Vorstädte, der Tanzpaläste vor Hauptbahnhöfen und in düsteren Kneipen.

Im Trikontverlag ist kürzlich eine famose Zusammenstellung von Tangoliedern veröffentlicht worden, betreut und recherchiert von Stephan Meier, offenkundig dem Land am Ende der Ostsee mehr als nur touristisch verbunden. Im beiliegenden Heftchen gibt er Auskunft über die Geschichte dieser Tanzmusik, berichtet, daß der Tango nicht nur eine Domäne der machtlosen Klassen vor allem auf dem Land war (und ist), sondern auch eine der Roma und Sinti – für sie war die Teilnahme an Tangokonkurrenzen immer auch die Chance zum gesellschaftlichen Aufstieg.

Versammelt auf dieser CD sind allesamt wehmütige Lieder, manche stammen aus den zwanziger Jahren, andere wurden erst vor kurzem produziert. Der Unterschied zur lateinamerikanischen Variante ist hörbar: Schon vom Tempo und von der Rhythmik her ist jedes erotisches Knistern getilgt. Finnische Tangopaare scheinen sich eher darauf zu verständigen, gemeinsam einsam zu bleiben – ohne Hoffnung, den anderen wirklich zu erreichen. Der tragische Charme der flehenden Stimmen und schwerblütigen Arrangements erschließt sich freilich erst, wenn man selbst einmal bei einer Dampfbootsfahrt über einen sonnenbeschienenen, birkengesäumten und sauberen See in der finnischen Provinz sie geht hat: Der Kontrast zwischen einem heiteren Sommer und den traurigen Liedern ist dann doch sehr sexy.

Anfang der sechziger Jahre stand Tango mit dem Siegeszug der Beatmusik unter dem Verdacht, alt und verstaubt zu sein. Auch die finnischen Achtundsechziger begannen damals, die kulturellen Stützpfeiler aus ihren Elternhäusern zu reißen. Vergebens, nicht zuletzt deshalb, weil Rock- und Wave-Musiker in den achtziger Jahren das Bandoneon durch Synthesizer zu ersetzen, die Melodien beibehielten und ihre Art von Tangos spielten – eine ästhetische Welle, die hierzulande mit dem Schlagerrevival vergleichbar ist.

Seinäjoki im frühen August: Alles, was in Finnland restriktiv ist (Ladenöffnungszeiten, Sperrstunde), wird für das Tangofestival suspendiert. Aber eben auch nur für diesen Event, nicht für andere: Als vor sieben Jahren David Byrnes Weltmusiktruppe dort gastieren wollte, zeigte man sich spröde und unpäßlich – und verwies die Musikanten an Helsinki, dort seien bessere Bühnen vorhanden.

Das war eine unfromme Lüge. In Wirklichkeit hieß es im Stadtrat, man wisse ja nicht, ob nicht vielleicht doch einige der dunkelhäutigen Musiker in Seinäjoki einfach dableiben würden (heute mag von dieser Episode niemand mehr etwas wissen). Insofern ist das Booklet der Trikontproduktion doch etwas zu sozialromantisch geraten: Wo Arbeiterklasse und Landbevölkerung draufsteht, muß noch lange nicht Weltoffenheit drinsein. Dafür ist Tango, der gemeinsame Pop-Nenner der finnischen Nationalkultur, längst befreit vom Stigma des Billigen.

Diverse: Finnischer Tango – Tule Tanssimaan (Trikont)

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