piwik no script img

Die Lifestylisierung der Massen

■ Von der Tragik der Boheme, en vogue zu sein: Die Theaterformation Erkennungsdienst & Partner mit „Das Leben der Boheme“ in der Arena

Der Mensch lebt nicht vom Geld allein. Ein elegantes Sozialprestige läßt sich nicht bloß am Kontostand ablesen, es muß zugleich umflort sein von der Aura des Genialen, Ideellen und Anarchischen. Wer schon selbst kein Künstler ist, zeigt sich ihm doch zugetan. Besser noch: Er schmückt sich mit den Attributen eines legendär unkonventionellen Lebensstils und leistet artig seinen Beitrag zur Bohemisierung der Alltagswelt.

Daran sind die Rezeptionen des Boheme-Mythos, einer Erfindung des 19. Jahrhunderts, nicht ganz unschuldig. Von Henri Murgers Roman, Puccinis Oper und Kaurismäkis Film zum gleichen Stoff kann und will Andreas Herrmanns Inszenierung des „Lebens der Boheme“ deshalb auch nicht absehen: Was früher mal als Gegenentwurf zum Bürgertum aus dessen Mitte heraus funktionierte, prägt heute selbstverständlich die ästhetischen Standards der Gut- und Besserverdienenden.

Die berühmte Geschichte von der winterlichen Manuskriptverfeuerung wird klassisch erzählt, dabei aber liebevoll an Berliner Verhältnisse angeglichen. Formiert zu drei Dreiergruppen, jagen die Schauspieler dem Rausch, der Inspiration und dem Geld hinterher.

Phase eins: Die Kommune formiert sich. Komponist Schaunard (Christian Lerch), Dichter Marcel (Sebastian Hufschmidt) und Maler Rudolph (Gregor Weber) solidarisieren sich überm Miet- und Wohnungsproblem. Einer hat den Vertrag, der andere die Möbel, und der dritte ist auch gerade besoffen: So ziehen alle zusammen, um endlich Kunst zu machen in der Not. Das läuft in Phase zwei gar nicht mal so schlecht, da Marcel von einem gewissen Herrn Schneider ein Pöstchen als Redakteur der Probenummer von Blond ist schön offeriert wird, nebst großzügigem Vorschuß. In nur drei Wochen hat den die Künstler-WG gemeinsam mit den Musen Mimi, Musette und Euphemia (aus Bernau) vollständig um die Ecke gebracht.

Phase drei ist der große Katzenjammer. Die Frauen sind weg; man feiert Weihnachten angeblich reuelos, mit Sicherheit pleite und gesteht einander, heimlich doch einen Brötchengeber gefunden zu haben. Mit verläßlicher Ironie zeigt Herrmann, wie verwandt Bourgeois und Bohemien einander sind. Übers Geld – sei es an- oder abwesend – definieren sich nämlich beide, weshalb die Kommune auch immer wieder mit einem Herrenchor kungelt, der sämtliche bürgerlichen Nebenrollen mit beachtlichen Körpermassen ausfüllt.

Abgesehen von den nur punktuellen Reminiszenzen an Puccinis Sentimentalität und Kaurismäkis maulfaule Trübseligkeit eigentlich ganz „realistisches“ Theater: die riesigen Container, auf denen die Schauspieler mit Resopaltischen und Sitzmöbeln aus öffentlichen Wartestuben herumfuhrwerken, die obligate Arbeiterkluft und Mimi als verruchte Cross-Gender- Figur, die nicht sterben muß; das alles im industriellen Ambiente der Arena, deren Fröstelklima das Thema stimmig rahmt. Schick gewordene ästhetische Standards also, die hier klug vorführen, daß einst der Boheme das Unglück widerfuhr, en vogue zu sein. Eva Behrendt

Bis 21. März 1999 um 20 Uhr, Arena, Eichenstraße 4, Treptow

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen