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Das Grinsen des Phantasten

Vogelblicke, Seitenhiebe: Die Berliner Nationalgalerie zeigt das Gesamtwerk von Max Ernst. Er war „Dada-Max“, Happening-Pionier und Surrealist erster Stunde  ■ Von Ulrich Clewing

Wer als Jugendlicher nicht an einer völlig verschnarchten Schule war, der hat sicher auch mal eine Frottage hergestellt, damals im Kunstunterricht. Das geht so: Man legt einen möglichst flachen Gegenstand vor sich auf den Tisch (etwa eine Münze), breitet ein Notizblatt darüber und fängt an, mit einem Bleistift hin und her zu schraffieren. Nach kurzer Zeit erscheint das Bild des Gegenstandes vor einem auf dem Papier. Einige hunderttausend SchülerInnen dürften auf diese Weise das kleine Wunder der Gestaltwerdung erfahren haben, wir jedenfalls erinnern uns gern daran zurück.

Dem Erfinder dieses Allgemeingut gewordenen künstlerischen Verfahrens widmet nun die Berliner Nationalgalerie eine große Retrospektive, die zweite in zwanzig Jahren. „Max Ernst – Die Retrospektive“ lautet der Titel, und der ist Programm: Er habe eine definitive Ausstellung über Ernst zeigen wollen, die Ausstellung eben, sagte der Kurator der Schau, Werner Spies, in seiner Eröffnungsrede. Unbescheidenheit ist in diesem Fall durchaus angebracht: Spies, Journalist, Ausstellungsmacher und seit 1997 Direktor des Centre Pompidou in Paris, ist wie wenige andere vertraut mit dem Werk des Rheinländers, der 1891 in Brühl bei Köln geboren wurde und 1976 am Abend vor seinem 85. Geburtstag in Paris starb. So kann man erwarten, daß die gut 180 Bilder, Collagen und Skulpturen, die von privaten Leihgebern und Museen aus aller Welt zusammengetragen wurden, so etwas wie das Konzentrat Ernstscher Kunst darstellen.

Max Ernst, der „Dada-Max“, der Surrealist, Kosmopolit und poetische Metaphysiker war nicht nur einer der kreativsten und phantasievollsten deutschen Künstler des 20. Jahrhunderts, er war auch derjenige, der den Humor in die Kunst einführte. Hinter jedem seiner Bilder, sei es auf den ersten Blick noch so unheimlich und duster, hinter jeder seiner Plastiken scheint ein Lächeln zu stehen. Es war seine Art, mit dem Schrecken umzugehen. Bei Ausbruch des Ersten Weltkriegs 1914 wurde er, 23jährig, zur Feldartillerie eingezogen. Anders als viele seiner Künstlerkollegen, die sich mit Emphase ins Kriegsgeschehen warfen, verspürte er wenig Lust am gegenseitigen Schlachten: „Und dann die große Schweinerei. Niemand aus dem Freundeskreis hat's eilig, sein Leben zu opfern, für Gott, König und Vaterland“, notierte er einmal im Rückblick.

1916 trifft er während eines Fronturlaubs in Berlin George Grosz und Wieland Herzfelde, den Verleger und Bruder des Fotomonteurs John Heartfield. Über die beiden ergeben sich Kontakte zu den führenden Vertretern des gerade entstehenden Dadaismus, der wahrscheinlich einzig wirklich anarchistischen Kunstform in diesem Jahrhundert. Wieder zurück in Köln, gründet Ernst gemeinsam mit Johannes Theodor Baargeld und Hans Arp 1919 die Dada- Gruppe „W/3“. Die drei geben verschiedene Zeitschriften heraus, organisieren Ausstellungen und das, was man heute Happenings nennen würde. Ein Jahr darauf wird die zweite Dada-Ausstellung im Kölner Brauhaus Winter wegen wütender Proteste des Publikums von der Polizei vorübergehend geschlossen. Die frühesten Bilder, die in Berlin zu sehen sind, lassen hiervon freilich wenig ahnen. Gemälde wie „Mond über der Stadt“ (um 1916) oder „Das Leben im Haus“ (datiert ca. 1919) sind deutlich beeinflußt von beispielsweise Marc Chagall. 1922 übersiedelt Ernst nach Paris, wo er die Surrealisten um André Breton, den Dichter Paul Éluard und dessen Frau Gala (die spätere Ehefrau von Salvador Dali) kennenlernt. In der Folge entstehen verrätselte, schwer ergründbare Gemälde, die bevölkert werden von eigenartigen Mischwesen: Vogelfrauen mit schönen, nackten Körpern und farbenfrohem Gefieder, an Schaufensterpuppen erinnernde Menschmaschinen, die einen seltsamen Kopfputz tragen. Zur gleichen Zeit stellt Ernst Collagen her, für die er verwendet, was er an Material kriegen kann: Zeichnungen, Fotos aus Zeitschriften, Werbung. Später werden aus Vogelfrauen Windgeister, Waldschrate oder der „Erwählte des Bösen“, eine grüne, heiter grinsende Phantasiegeburt, die am Himmel schwebt und entfernt aussieht wie eine Kreuzung von Elefant und Pelikan. Es sind Bilder wie diese, die den Maler Max Ernst bekannt gemacht haben, so bekannt, daß sie sich ins kollektive Unbewußte eingeschrieben haben.

Ernst bleibt all die Jahre in Frankreich, wird 1939 bei Kriegsausbruch als deutscher Staatsbürger in einem Gefangenenlager interniert. 1940 gelingt es ihm, in die USA zu emigrieren. Er heiratet die Kunstsammlerin Peggy Guggenheim, für kurze drei Jahre sind die zwei ein Paar. Er nimmt die amerikanische Staatsbürgerschaft an, kehrt dann aber 1953 doch nach Frankreich zurück. Sein Verhältnis zu Deutschland ist distanziert. 1964 wird ihm, dem Weltbürger, der längst internationales Renommee genießt, das Große Verdienstkreuz verliehen. Die Ehrenbürgerschaft, die ihm zwei Jahre später von seiner Geburtsstadt Brühl angetragen wird, lehnt er jedoch ab.

„Max Ernst – Die Retrospektive“. Bis 30.5., Neue Nationalgalerie, Berlin; danach: Haus der Kunst, München. Der im Dumont-Verlag erschienene Katalog kostet in der Ausstellung 49 Mark

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