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Schewtschenko öffnet das Tor nach Europa

■ Nach dem 2:0 über Madrid hat Kiew nur ein Thema: Dynamo im Champions-League-Halbfinale

Kiew (taz) – Der Tag danach in Kiew. Gewohnt mürrisch die Gestalten auf den Straßen, aber ein wenig stolzer, so scheint es dann doch. In der Metro, auf den großen Märkten nur ein Thema: Dynamo. Man hat nicht nur den Champions-League-Titelverteidiger Real Madrid 2:0 besiegt, sondern sich damit massiv eingemischt ins Konzert des Westens, wohin man sonst so flehentlich aufschaut. Bayern, Juventus, Manchester und – nicht Real. Wir. Nun wollen sie aber auch gewinnen.

Als Gegner ist den Kiewern jeder recht, aber „Bavaria“, wie hier der FC Bayern heißt, das ist der heimliche Wunsch. Deutschland, das ist nah, das ist greifbar. Großer Respekt allenthalben für die Bayern, deren Siegeszug man mitverfolgt. Dennoch hält man jetzt alles für möglich. In der Tat: Dynamo Kiew steht zu Recht unter den besten vier Teams Europas, ist kein Außenseiter, aber ein Paradoxon: Unverschämt erfolgreich in einem erfolglosen Land.

Ein richtig gutes Spiel war das 2:0 über Real Madrid allerdings nur am Ende. Offener Schlagabtausch nennt man das, was der Kiewer Führung (68.) folgte. Als Bodo Illgner den Ball aus dem Netz holte, war das praktisch seine erste Ballberührung. Ein Steilpaß von der Mittellinie, und Ilgner konnte Schewtschenko nur per Foul stoppen. Den Elfmeter hielt er, nicht den Nachschuß. Ein weiterer Konter zehn Minuten später, das war's dann auch schon.

Kiew hätte ein 0:0 gereicht, und so spielte man auch. Real hatte offenbar niemand gesagt, daß man nicht gewinnen kann, ohne ein Tor zu schießen. Seedorf und Roberto Carlos zauberten, aber ohne zählbaren Erfolg. Den markierte nur Dynamos bester Spieler Andrej Schewtschenko (22). Das Tor in Madrid, zwei in Kiew. Für die Ukrainer hat er ein politisches Statement abgelegt: Dynamo öffnet das Tor nach Europa. Was der Staatsführung nicht gelingt, müssen elf Fußballspieler richten. Der gemeine Kiewer leidet schwer unter dem katastrophalen Image des Landes. Und unter dem Land selbst. Ein Blick in die Zeitungen von gestern: Der IWF ziert sich mit den Krediten, Löhne sinken, Preise steigen, Grippewelle, verdorbene Lebensmittel, Pressezensur, ausländische Investoren machen sich aus Staub – gestern egal, Dynamo schlägt sie alle.

Fußball im März in Kiew: Das sind 80.000 Polyester-Skimützen und Fellkappen auf verkniffenen Gesichtern. Kein Klischee zu abgegriffen: Minus vier Grad, Schneereste im Stadion, Wodka und Butterbrote kreisen unter roten Wangen. 80.000 sind es offiziell. Mehr erlaubt die Uefa nicht.

Aber glaubt jemand, ausgerechnet im Fußballstadion läßt sich in diesem Land eine Regel durchsetzen? Geld hat man keins, aber Dynamo muß man sehen. 30 Minuten vor Spielbeginn ist das Stadion bis auf den letzten Platz gefüllt. Vor den geschlossenen Toren noch Tausende von Kartenbesitzern. Ukrainische Variante: Tickets werden kontrolliert, nicht abgerissen, sind somit mehrfach verwendbar. 30 Minuten nach Spielbeginn sind die 100.000 dann irgendwie drin. „Di-Na-Mo“ ist der einzige hier bekannte Sprechchor, der kommt dafür alle zwei Minuten. La Ola hat hier keine Chance. Da müßte man die Hände aus den Anoraks kriegen. Das gelingt erst nachts um zwei, als man sich in den Kneipen neben dem Sieg auch das Spiel noch richtig schön redet.

Auch der Staatspräsident Kutschma hat inzwischen natürlich eine Grußadresse gesandt. Schließlich will er in einem halben Jahr wiedergewählt werden. So träumt er vielleicht schon von seiner wohl öffentlichkeitswirksamsten Wahlveranstaltung: Ende Mai im Präsidentenpalast mit der Mannschaft und der Champions- League-Trophäe. Kurt Pertini

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