: Wahlgeschenk gewonnen, Wahlgeschenk zerronnen
■ Dr. Seltsam schenkte Christian Specht zum 30. einen Listenplatz der KPD/RZ für die BVV Kreuzberg. Nun soll alles ein Mißverständnis und Spitzenkandidat soll Dieter Kunzelmann sein
Das ist eine von diesen Geschichten, wie sie nur das Leben in Kreuzberg schreibt: Da schenkt der stadtbekannte Kabarettist Dr. Seltsam dem stadtbekannten Politaktivisten Christian Specht zu dessen 30. Geburtstag einen Listenplatz der Spaßguerilla „Kreuzberger Patriotische Demokraten/Realistisches Zentrum“ (KPD/RZ) für die Bezirkswahl am 10. Oktober. Christian Specht ist hocherfreut und stellt, ganz Politiker, eine Bedingung: „Ich trete für die KPD/RZ nur unter der Bedingung an, daß die ihre Kandidatur auch ernst nehmen und nicht nach der Wahl sagen, daß sie doch nicht in die BVV gehen.“
Wie recht Christian Specht mit seinem Argwohn hatte, zeigt sich jetzt, zwei Monate nach seiner Geburtstagsfeier am 9. Januar im Prater. Vor wenigen Tagen mußte er erfahren, daß das Geschenk des seltsamen Gratulanten ein Schnellschuß war, der bei der Party entstanden war, auf der Gesundheitsministerin Andrea Fischer Saxophon spielte und Berliner Grüne Ballett tanzten. „Ich war bei dem Geburtstag angewidert, daß ihn die Grünen so maskottchenmäßig behandeln“, rechtfertigt sich Dr. Seltsam alias Wolfgang Kröske für sein Geschenk, das nun keines mehr sein soll. „Das ist schiefgelaufen“, gesteht er, „ich habe ein schlechtes Gewissen, daß ich Christian was Schlechtes antun mußte.“
Der Grund: Der seit dem 1. April vergangenen Jahres verschwundene Dieter Kunzelmann soll der Spitzenkandidat der KPD/RZ sein, die bei den Kommunalwahlen 1995 mit 4,9 Prozent in Kreuzberg knapp scheiterte. „Man muß sich überlegen, für wen man Propaganda macht“, so Dr. Seltsam weiter. Außerdem sei man bei der KPD/RZ, die offiziell 80 Mitglieder hat, aber in Wahrheit eher die Größe einer Wohngemeinschaft umfaßt, „nicht so richtig erbaut“ über Spechts Listenplatz gewesen. Christian sei zudem kein Kreuzberger und vielleicht gar nicht geschäftsfähig, redet sich Dr. Seltsam weiter heraus. Ob der Gründer der Kommune 1, Ex-Maoist und ehemalige AL-Abgeordnete Kunzelmann als gebürtiger Franke mehr Kreuzberger als der Neuköllner Christian Specht ist und ob es um dessen Geschäftsfähigkeit so viel besser bestellt ist, sei dahingestellt.
Fest steht, daß mit dem scheintoten Kunzelmann, dessen Wiederauftauchen mehrere Male angekündigt wurde, ein bunterer Wahlkampf zu machen ist. Und: Dr. Seltsam sagt, daß Kunzelmann sagt, daß er nur als Bürgermeister nach Berlin zurückkommt, weil er hoffe, daß er als Inhaber dieses Amtes die Haftstrafe nicht antreten muß, die ihm wegen Eierwürfen auf den Regierenden Bürgermeister Eberhard Diepgen droht.
Christian Specht indes, der nun erwägt, für die PDS in Neukölln zu kandidieren, ist enttäuscht. „Ich möchte dagegen protestieren, daß mit meinen ernsthaften Absichten, in Kreuzberg gemeinsam mit Bündnis 90/ Die Grünen, PDS, SPD und KPD/RZ Politik zu machen, so fahrlässig verfahren wird“, schrieb er in einer Pressemitteilung mit KPD/RZ-Briefkopf. Und Dr. Seltsam, der den Grünen Maskottchenhalterei vorwirft, bedient sich nun eben jener Partei, um Christian abzuschieben: „Seine politische Heimat ist bei den Grünen“, sagt er. „Ich wünsche ihm alles Gute, und es tut mir leid, daß ich so vorschnell war.“ Barbara Bollwahn de Paez Casanova
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