: Blutiges Neujahrsfest in Istanbul
Die türkische Polizei löst gewaltsam eine Newroz-Feier auf. Kurden schießen zurück. Bereits am Vortag fanden Razzien bei prokurdischen Organisationen statt ■ Aus Istanbul Jürgen Gottschlich
Zuerst war es nicht mehr als eine ätzende schwarze Rauchwolke. Von weitem erkennbar, wie Autoreifen eben brennen. Trotz strikten Verbots hatten Jugendliche gestern in dem kurdischen Slumviertel Küçükköy in Istanbul mehrere Traktorenreifen angezündet. Ein stinkendes Newroz- Feuer auf einem unbebauten, unwirtlichen Platz neben einer Moschee, begrenzt von einer Straße, auf der Marktstände aufgebaut waren. In wenigen Minuten füllte sich das Areal, war eine Trommel zur Hand, und die Leute begannen zu tanzen. Begeistert skandierten die vielleicht 300 zumeist jugendlich Kurden ihre Unterstützung für die PKK, schwenkten Tücher in den kurdischen Nationalfarben Gelb, Grün und Rot, sichtlich stolz, dem Verbot aller Feiern zum kurdischen Neujahrsfest zu trotzen.
Es dauerte nur eine gute Viertelstunde, bis die ersten gepanzerten Polizeifahrzeuge den Hügel hinaufgekrochen kamen. Die Polizei sammelte sich am Rande des Platzes, noch in gewöhnlicher Uniform, die ersten aber bereits mit Maschinenpistolen in der Hand. Dann ertönte über Lautsprecher die Stimme eines des Polizeioffiziers: „Lösen Sie die Demonstration auf, Versammlungen sind verboten.“ Gellende Pfiffe und „PKK, PKK“-Rufe waren die Antwort. Langsam fuhr der gepanzerte Lautsprecherwagen in die Menge und wiederholte die Aufforderung, den Platz zu räumen. Dann ging alles ganz schnell. Ein Steinhagel prasselte auf das Polizeifahrzeug, und fast im selben Moment eröffneten die am Rande des Platzes stehenden Polizisten das Feuer. Einige schossen in die Luft, andere direkt in die Menge. Wie auf dem Schießstand, den Oberkörper vorgebeugt, die Maschinenpistole im Arm, feuerte ein Beamter fast ein ganzes Magazin leer. Während die Demonstranten in wilder Flucht Deckung zwischen den Häusern suchten, peitschten von einigen Dächern Schüsse zurück. Bewaffnete Kurden hatten sich auf angrenzenden Hausdächern verbarrikadiert und feuerten auf die Polizei. In wenigen Minuten verwandelte sich das ganze Viertel in ein lärmendes Chaos. Polizeisirenen heulten an allen Ecken, Verstärkung rückte heran. Eine ganze Schlange der weißen gepanzerten Geländefahrzeuge preschte den Hügel hinauf, in Bussen wurde die Spezialeinheit zur Aufstandsbekämpfung herangefahren – maskierte Männer in schußsicheren Westen. Über dem Viertel kreisten Polizeihubschrauber, alle Zufahrtsstraßen wurden dichtgemacht.
Nach rund zwei Stunden kehrte vorläufige Ruhe ein. Alle Anwohner hatten sich zurückgezogen, die Polizei hielt die Straßen besetzt. Über die Opfer der Auseinandersetzung gab es am gestern nachmittag zunächst nur Gerüchte. In ersten Meldungen der halbamtlichen Nachrichtenagentur Anadolu ist von mehreren Verletzten auf beiden Seiten die Rede.
Außer in Küçükköy kam es in Istanbul bis zum gestrigen Nachmittag noch in dem ebenfalls von Kurden bewohnten Vorort Yenibosna zu Zusammenstößen. Auch dort soll die Polizei bei dem Versuch, eine Newroz-Feier aufzulösen, geschossen haben. In den überwiegend kurdisch bewohnten Städten im Südosten der Türkei blieb es dagegen bis zum Nachmittag weitgehend ruhig. In Diyarbakir und Batman, zwei Provinzhauptstädten in denen seit Jahren der Ausnahmezustand herrscht, hatten die Gouverneure alle Feiern verboten. In Diyarbakir waren zusätzliche Einheiten der Jandarma zusammengezogen worden, denen es gelang, Demonstrationen zu unterbinden. Am diesjährigen Newroz wollten die türkischen Sicherheitskräfte landesweit beweisen, daß sie die Lage, trotz der kurdischen Empörung nach der Verschleppung des PKK-Führers Abdullah Öcalan, fest im Griff haben.
Bereits im Vorfeld wurden in Istanbul Razzien in den Büros der prokurdischen Partei Hadep und des PKK-nahen Mesopotamischen Kulturvereins durchgeführt. Dabei nahm die Polizei am Samstag sieben führende Hadep-Mitglieder fest. Auch im Mesopotamischen Kulturverein gingen am Samstag nachmittag die Lichter aus. Eine Gruppe deutscher Besucher wurde hinausgedrängt, alle anderen, rund hundert Leute, vorläufig festgenommen.
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