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Schöner Scheitern

In Darmstadt die Weltrevolution verabschieden: Friedrich Kröhnkes „Atterseekrankheit“ als eitle Nabelschau  ■ Von Ulrike Baureithel

Mitte der achtziger Jahre machte sich der Literaturwissenschaftler Carl Pietzcker in der damals noch gläubigen Brecht-Gemeinde unbeliebt, als er sich in die somatischen Niederungen des Dichters begab und dessen sogennante „Herzneurose“ zusammenschloß mit Vaterverlust, Mutterbindung und latenter Homosexualität, die das lyrische Ich in den frühen Gedichten nihilistisch abarbeitete. An Brechts „Herzneurose“ erinnert – ohne allerdings entfernt eine qualitative Genealogie behaupten zu können – die „Atterseekrankheit“, die leitmotivisch die Lebensbeichte des durchaus noch jungen, in Berlin lebenden Autors Friedrich Kröhnke durchzieht.

Diese euphemistisch nach ihrem Reiseanlaß bezeichnete Krankheit nämlich ist der Ausgangspunkt all jener Wirrungen des Heranwachsenden in den späten sechziger und siebziger Jahren in jener so idyllisch gelegenen Stadt der Künste, aus der Büchner stammt und wo Anna Sobota, wenn sie nicht von den geheimnisvollen Anfällen der Atterseekrankheit heimgesucht wird, psychologische Romane schreibt. Mit ihr innigst verbunden ist der Autor, wenn er sich morgens, statt in die Schule des Lebens zu trotten, in ihr Bett legt und die Campari- schlürfende, zigarettenschlotende Dame beim Schreiben beobachtet, während der körperlich und mental abwesende Vater den Pillennachschub aus der Firma Merck besorgt.

All dies kann nicht gut gehen, zumal nicht in einer Zeit, wo die Schule des Lebens weniger im traditionsreichen Ludwig-Georg- Gymnasium gesucht wird, sondern im Café Ludwig auf der Mathildenhöhe, mit den „linken Lehrern“ in souterainen Wirtshäusern oder volltrunken nächtens im Wald. Und wenn man, eben nur Nachgeburt seines Zwillings, von der Mutter die Atterseekrankheit geerbt hat, die einen glauben läßt, historisch bedeutsam zu sein. Wenn auch vorerst nur in der Weise, die mittelstadtwinzige Sozialdemokratie unterwandern zu können.

So verschlägt es den als „Rädelsführer“ relegierten Autor Kröhnke mit einer geheimnisvollen Herzerweiterung oder -verkleinerung, im Gemütszustand gelinden Größenwahns, zunächst in ein Weindorf an der Bergstraße. Weiter geht es in die Bochumer Zentrale der Weltrevolution, von dort auf die Kölner Domplatte, bis er schließlich in einer viel zu großen Wohnung in Berlin-Friedenau landet, wo die „jungen Jungen“ seines Herzens Ein- und Auszug halten.

Darmstadt also, in den bewegteren siebziger Jahren. Kurze Episoden vom „Friz“ und seinem Zwilling Carl im „Haus am Walde“, zwischen scheußlich-gelben Tapeten und Goldmanns Gelben Taschenbüchern und dem „wilden Geheimnis“. Wie sie mit der spinnerten Mutter „Schellekloppe“ spielen oder im Wald hinter dem Haus einen kleinen Jungen nackt auszogen, weil er weiße Mädchenschuhe an hatte. Wie die Jungen, um all dem Braun und Gelb zu entkommen, sich rötlich färbten. Und wie „der Friz“ die Angst lernte, angesichts der unter Tage Verschütteten von Lengede, und weil er in der Turnstunde bei der Rolle rückwärts versagte.

Dieser gelungene, erste Teil des Romans liest sich wie mit einem Spektroskop: Je näher die Dinge herangeholt werden, desto fremder erscheinen sie: Die weltrevolutionären Entwürfe inmitten der Verdrängungskultur der trotz allem biederen Kleinfamilie; die Zeiten, wo man sich wegen eines Schulverweises noch als Motor der Geschichte wähnen konnte und die verstohlene Wichserei mit einem gutbürgerlichen Knaben als Sexpol feierte. Im Windschatten der 68er wucherte eine Generation, die, wie Reinhard Mohr vor einigen Jahren diagnostizierte, unbedrängt aufgewachsen war und als Zaungäste alle Chancen hatte, „durch den Rost der Geschichte“ zu fallen. Vor die Wahl gestellt zwischen RAF und Staat, entschied sich diese Generation fürs Subjekt; man könnte auch sagen: Für die subjektive Nabelschau.

Friedrich Kröhnke ist nicht geizig, was den Nabel betrifft und das, was darunter kommt. In der neuen Unübersichtlichkeit, die seiner Revolte folgt, gibt es nur eine Verkehrsform: die „Beziehung“. Und nur einen Bezugspunkt: die eigene Befindlichkeit. Mit den Frauen Evelyn und Esther scheitert das Leben, weil sie mehr sein wollten als eine Figur in seinem Lebensroman, die vom S(obota)-Faktor bestimmt wird: Orgiastische Übertreibung.

So bleiben „dem Friz“, um geschichtsmächtig zu werden, nur die unzähligen Knaben, die so profillos und austauschbar sind wie die exotischen Länder, in denen er sie findet und die Episoden, mit denen er uns bis zum Brechreiz quält. Hin und wieder gibt er ihnen auch ein Gesicht, Tim und Felix oder den Prager Jünglingen, doch nur so lange, wie sie Narziß an der Quelle zurückspiegeln.

Es hätte das Panorama werden können einer Zeit, die nah ist und schon wieder Geschichte. Doch auch „Unordnung und frühes Leid“ und ein Leben im permanent (selbst-)verliebten „Ausnahmezustand“ bedürfen ordnender Eingriffe, wenn die Erfahrung historische Geltung und eine Leserschaft beansprucht. Man hat keine Wahl im Ausnahmezustand, schreibt der Autor. Doch, ließe sich entgegenhalten, eine Wahl der Mittel. Sie kann sich nicht darin erschöpfen, den von den Weimarer Vorbildern geklauten (und bereits im Roman „Grundeis“ eingeführten) „steifen Hut“ tief ins Gesicht zu ziehen und die Sentimentalität – auch dies eine Erbschaft der Muttersöhnchen Kästner und Co. – zu kultivieren.

Am Ende bleibt die Angst des Kröhnke vor der Rolle rückwärts, die Furcht, daß sich die gelebte Geschichte zusammenschiebt und Rechenschaft fordert.

Friedrich Kröhnke: „Die Atterseekrankheit“. Roman. 438 Seiten. Ammann-Verlag, Zürich 1999

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