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Ein Jubiläum mit Ausstrahlung

Vor 20 Jahren entgingen die USA beim Reaktorunfall von Three Mile Island nur knapp einer Atomkatastrophe. In der Region schwindet die Erinnerung  ■ Aus Harrisburg Peter Tautfest

Um vier Uhr morgens wachte Bill Wittock von einem fauchenden Knall auf, der sein Haus 15 Meilen südlich von Pennsylvanias Hauptstadt Harrisburg erschütterte. Er schlug die Augen auf und sah in der sternklaren Nacht drüben auf Three Mile Island eine hundert Meter hohe Dampfsäule über dem Reaktorgebäude. Das war am 28. März 1979, einem Mittwoch. Bill hatte dieses Geräusch schon mehrfach gehört, seit die beiden Reaktoren TMI 1 und 2 in Betrieb genommen worden waren. Er drehte sich aufs andere Ohr und schlief weiter.

Was er nicht wußte: In den Eingeweiden des Reaktors TMI 2 begann um 3:57 Uhr der schwerste Atomunfall der USA. Zwei Techniker hatten im Kühlwasserkreislauf ein Zuflußventil nicht freibekommen, Ventile, die hätten offen sein müssen, schlossen sich, und andere, die hätten geschlossen sein müssen, standen offen. Innerhalb von Minuten liefen die Turbinen und der Reaktor heiß, Kühlwasser erhitzte sich, und angesammelter Dampf entwich explosionsartig über ein Notventil. Im Kontrollraum gingen die Warnlampen „wie bei einem Weihnachtsbaum“ an, erinnert sich Bill Zewe, leitender Überwachungsingenieur. Die Fülle eingehender Informationen überwältigte das Personal. Signale wurden nicht erkannt oder falsch interpretiert. Über Stunden blieb der eigentliche Fehler unentdeckt: Kühlwasser erreichte den Reaktor nicht, der Kern begann zu schmelzen. Das AKW bei Harrisburg stand vor dem Super-GAU: Ein geschmolzener Uraniumkern hätte sich durch die Betonsohle des Reaktorgebäudes ins Erdreich und ins Flußbett gebohrt, erhitztes Grundwasser wäre in radioaktiven Geysiren aufgestiegen und hätte einen dichtbesiedelten Landstrich im industriellen Osten Amerikas auf Jahrhunderte unbewohnbar gemacht.

Daten über die Folgen des Unfalls gibt es kaum

Als Bill Wittock nach dem Frühstück auf die Veranda seines Hauses trat, spürte er einen metallischen Geschmack auf der Zunge. Auf der anderen Seite des Flusses in Swatara nahm Mary Osborne an diesem Morgen ebenfalls den metallischen Geschmack wahr und hörte keine Vögel. Osborne erinnerte sich an die Geschichten von Schlampereien, die sich beim Reaktorbau eingeschlichen hatten. Als Robert Reid, der Bürgermeister der Nachbarstadt Middletown, bei der Betreibergesellschaft Metropolitan Edison anrief, bekam er das gleiche zu hören wie die Presse und der Gouverneur: „Alles in Ordnung, machen Sie sich keine Sorgen.“

Die Anweisung, die Fenster zu schließen und die Häuser nicht zu verlassen, erging erst am nächsten Tag. Zwei Tage später, als eine explosive Wasserstoffblase im Reaktor entdeckt wurde, ordnete der Gouverneur die Evakuierung von Schwangeren und Kindern im Umkreis von fünf Meilen um das Kraftwerk an. Auch Mary Osborne verließ mit ihren Kindern Swatara. Als sie die beiden bei der Rückkehr badete, entdeckte sie auffallend viele Haare in der Badewanne. Bill Wittock schnappte sich seine beiden Katzen und eine Flinte und fuhr nach Camp Hill – zehn Meilen flußaufwärts. „Warum die Flinte?“ Bill zuckt mit den Achseln, „es bestand doch Gefahr.“ Seine Katzen überlebten, viele der daheim gebliebenen Katzen nicht. Mary Osbornes Tochter starb an Krebs. „In der Valley Road allein starben sechs Menschen an Krebs.“ Auch Bill Wittock leidet an Prostata-Krebs. „Bei der Behandlung habe ich mehr Strahlen abgekriegt als beim Reaktorunfall“, lacht der 92jährige.

Die Anti-Atomkraft-Gruppe Three Mile Island Alert entstand schon vor dem Reaktorbau. Weil weder die Betreibergesellschaft noch das Gericht, vor dem Schadenersatzklagen verhandelt wurden, befriedigende Untersuchungen zu den Auswirkungen des Unfalls vorlegten, startete TMI-Alert eigene Untersuchungen. Die Gruppe zog von Haustür zu Haustür und befragte die Nachbarn. Sie entdeckten Mutationen bei Pflanzen und Tieren, Totgeburten und Mißbildungen bei Vieh und Haustieren und etliche Fälle von Krebs. Doch fünf Jahre nach dem Unfall waren schon zu viele Menschen aus der Region fortgezogen, neue waren zugezogen, die untersuchte Gruppe war klein und nicht repräsentativ. Die Untersuchungen brachten letztlich so wenig verläßliche Daten wie jene, die das Gericht bei der Columbia University School of Public Health in New York bestellt hatte.

Heute überwachen Bürger die Atomanlage

Heute hat Mary Osborne keine Hoffnung mehr, daß die 2.000 Schadenersatzklagen gegen die Betreibergesellschaft, die 1997 summarisch abgewiesen worden waren, erfolgreich wiederaufgenommen werden können. Auch für Hellen Hocker, die damals auch an den Befragungen mitwirkte, gibt es am Jahrestag nichts zu feiern. Osborne und Hocker empfinden sich heute als eher noch kleiner gewordene Minderheit unter den Bürgern der Region. Deren Zahl ist nicht, wie zunächst befürchtet, gesunken, sondern wie im properen Middletown oder im idyllischen Goldboro sogar gewachsen. Viele Bürger nehmen die atomare Vergangenheit der Gegend nur als Witz wahr. Bei Kuppy's, einem Diner in Middletown, weist Ed hinter der Bar auf seinen weißblonden Sohn, der einem Gast gerade selbstgemachte Bohnensuppe auftischt: „Der ist gerade 20 geworden, er wurde also vor dem Unfall geboren. Da kann man mal sehen, was die Radioaktivität bei ihm angerichtet hat, daher hat er seinen schönen, wasserstoffblonden Schopf.“ Das Mittagspublikum lacht dröhnend.

Der eigentliche Motor von TMI- Alert ist der heute 38jährige Eric Epstein. Der Assistenzprofessor für Geschichte und Holocaust-Studien am Dickinson College sieht den Reaktorunfall als Wendepunkt in der Geschichte der Atomenergie. Erst seitdem werde öffentlich über die Atomkraft diskutiert. „Manche Katastrophen zwingen zum Umdenken. Three Mile Island hat das Denken über eine wichtige Technik geändert.“

Edward Walsh, Soziologe an der University of Pennsylvania, hat die Auswirkungen der Katastrophe auf das Bewußtsein der Menschen in der Region untersucht. „Während und nach der Katastrophe wurde das symbiotische Verhältnis zwischen den Kontrollbehörden und den Kraftwerksbetreibern deutlich. Und selbst die Politik schien gegenüber der Atomenergie machtlos, weil diese so abgeschottet war. Die Demokratie war Opfer des Unfalls geworden.“ Nach jahrelangem Kampf gegen die Energieversorger tat Eric Epstein 1992 das Ungeheuerliche: Er schloß zwei Abkommen mit GPU, der Betreibergesellschaft von Three Mile Island. Als GPU 1992 den Reaktor TMI 2 einmotten wollte, wozu eine Genehmigung erforderlich ist, drohte Epstein unter Verweis auf etliche Betriebsfehler und umfangreich dokumentierte Verstöße gegen Sicherheitsbestimmungen mit einem Hearing vor der Atomenergiebehörde. GPU, die kein Interesse an einem zeitaufwendigen und kostspieligen Verfahren hatte, erklärte sich zu einem Deal bereit: Für rund eine Million Dollar trug die Firma die Kosten für ein von Bürgern betriebenes Monitoring-System, kaufte die Meßgeräte und Roboter und zahlte die Ausbildung von Technikern. Als GPU den noch arbeitenden Reaktor TMI 1 verkaufen wollte, drohte Epstein wieder, den Verkauf durch alle Instanzen anzufechten – und erreichte einen zweiten Deal: Das MonitoringSystem in Bürgerhand wird weiter finanziert, und die neue Betreibergesellschaft darf niemanden aus der alten TMI 1 Belegschaft entlassen. „Wir sind sehr am Erhalt eines institutionalisierten Gedächtnisses auf Three Mile Island interessiert. Wir wollen nicht, daß just die Leute wegrationalisiert werden, die diesen Reaktor inzwischen am besten kennen.“

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