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Dichtung und Bildnis

Wo, bitte, geht's zur Wirklichkeit? Die Leipziger Buchmesse zwischen Krieg und Eventproduktion. Bulgarien ist der letzte Länderschwerpunkt der Frühjahrsmesse  ■ Von Jörg Magenau

Über den Türen der Leipziger Straßenbahn steht: „Bitte vor dem Ausstieg Fahrgastwunsch betätigen.“ Ein freundliches Angebot, doch welche Wünsche werden da erfüllt? Leipzig ist eine wunschintensive Stadt im Aufbau-Elan, mit immer weniger Baugerüsten und immer mehr frischen Fassaden, Stuck und Goldbesatz, Straßencafés mit nagelneuen Stühlen. Die Leipziger erfüllen sich ihre Wünsche selbst. Den Aufschwung der Buchmesse erzwingen sie durch Freundlichkeit und schreiben ihn in der Leipziger Volkszeitung entschlossen herbei. Kein Tag ohne Erfolgsmeldung: mehr Aussteller, mehr Fläche, mehr und glücklichere Besucher. Vielleicht stimmt das rein datentechnisch ja sogar, obwohl weiter rote Zahlen geschrieben werden.

Über 700 Veranstaltungen sind in der von Bertelsmann gesponserten Reihe „Leipzig liest“ angekündigt, die seit 1991 das ökonomische Vakuum füllt und zum „Eigentlichen“ der Messe geworden ist. Selbst die osteuropäischen Länderschwerpunkte als thematisches Gegengewicht sollen in Zukunft abgeschafft werden. 1999 darf letztmalig Bulgarien für sich werben, aber das interessiert schon niemanden mehr so richtig. Im „bulgarischen Café“ auf der Messe sitzen verloren ein paar bärtige Dissidenten aus wer weiß welcher Vergangenheit, und zornige bulgarische Lyriker beklagen das Desinteresse der Welt.

Die riesige Glashalle des Messegeländes ist durch verglaste Röhren mit den benachbarten Hallen verbunden: als sei es gefährlich, mit der Außenwelt in direkten Kontakt zu geraten. So fühlt man sich als Besucher einer seltsamen Raumstation und wundert sich über die unerklärliche Betriebsamkeit der Menschen. In Zeiten des Krieges wirkt das alles noch irrealer. Die Nachrichtenlage ist wichtiger als alle Neuerscheinungen. „Ob mein Sohn bald eingezogen wird?“ sorgt sich ein älterer Herr, der sich gerade ein Eis kauft.

Egon Bahr analysiert die „selbstgeschaffene Zwangslage“, in die der Westen sich manövriert habe, so daß nun gebombt werden müsse, ohne ein militärisches Ziel zu haben. Eine Woche wird das dauern, verspricht er, nicht viel länger, nicht viel kürzer. Und es wird nichts bringen als eine noch fragilere Weltordnung. Trotz Krieg ist die Buchmesse dazu verurteilt, Ereignisse zu kreieren, die dazu führen, daß man von ihr – also von sich selbst – spricht. In Kriegszeiten nennt man das Verdrängung, in anderen Jahren heißt es Event. Im Vorjahr ereignete sich die Erfindung des Ingo Schulze, der binnen weniger Tage vom Nobody zum Star avancierte. Vergleichbares ist 1999 nicht zu melden, obwohl die Verlage breitflächig auf deutsche Debütanten gesetzt haben. Doch die Rolle des neuen Stars war schon vor der Messe vergeben. Judith Hermanns Erzählungen „Sommerhaus, später“ haben die Hunderttausendermarke überschritten, ihre Lesungen sind überlaufen.

Wie von einer Glasglocke umgeben, sitzt sie mitten im Gedränge und scheint den Lärm um ihre Person gar nicht zu bemerken. Sie liest gut, die Traurigkeit ihrer Texte liegt auch in ihrer Stimme und fängt selbst hier, wo alles Lesen vergeblich ist, die Zuhörer ein. „Ihre Erfolgsgeschichte“, sagt Helmut Böttiger von der Frankfurter Rundschau auf dem Symposium „Der Trend zum Event“ im benachbarten Congress Center, wäre ohne das dazugehörige Autorenfoto anders verlaufen. Die verhangene Melancholie, der offene Blick ins Leere, das geknotete, Sensibilität und Strenge versprechende Haar, der Pelzkragen, der die Weite und Kälte des Ostens thematisiert: Das Ereignis Judith Hermann baut auf assoziatives Einverständnis. Gelungene Literatur allein macht noch keinen Star.

Gert Neumann kommt deshalb nicht in Frage, obwohl unlängst Martin Walser als Laudator seines neuen Romans „Der Anschlag“ auftrat. Endlich der Roman der Wiedervereinigung, das erste gelungene Ost-West-Gespräch überhaupt, sagte Walser, und jetzt steht sein Lob in der Zeit. Doch Neumann, einer der radikalsten DDR- Verweigerer, gilt zu Recht als „schwieriger“ Autor, und seine Lesung im Leipziger „Archiv der Bürgerbewegung“ erhärtete diesen Eindruck. Wer so radikal das Schweigen thematisiert, wer so verschlungene Sätze schreibt und beinhart kantianisch das Eigentliche hinter der Wirklichkeit sucht, taugt nicht zum Buchmessenstar. Da nützt ihm alle Freundlichkeit und schwer erkämpfte Gelassenheit nichts.

Günter Grass aber, der weiß, wie's geht. Im großen Saal der Stadt liest er aus seinem neuen Buch „Mein Jahrhundert“, hundert kurze Geschichten, für jedes Jahr eine. Hunderte stehen murrend unten auf der Straße, die – trotz Videoübertragung in andere Räume – nicht mehr hereinpassen. Wenn Günter Grass liest, dann ist das ganz von selbst ein Ereignis, das historische Aura umgibt: Ich war dabei. „Mein Jahrhundert“ wird aus der Perspektive von Randfiguren erzählt, beiläufige Zeugen der Geschichte, Helden des Alltags: Ein Uferaufseher vom Wasseramt Potsdam berichtet, wie 1912 zwei Schlittschuhläufer durchs Eis brachen und ertranken. Einer von ihnen war der Dichter Georg Heym. Schulkinder spielen im Jahr 1937 auf dem Schulhof in Danzig-Langfuhr den Spanischen Bürgerkrieg nach, und selbstverständlich will niemand zu den Roten gehören und erschossen werden. Ein Journalist verfaßt 1970 einen Bericht über den Kniefall in Warschau, doch immer wieder trägt ihn der Haß auf den Kanzler („Dieser Emigrant!“) mit sich fort und aus dem gediegenen Orgeltonfall deutscher Vergangenheitsbewältigung hinaus. Natürlich klingt all diese Rollenprosa immer nach Grass, die Steckrüben dürfen nicht fehlen, und manchmal ist nur Geschichte zum Geschichtlein ausgepinselt. Aber insgesamt hat das großen Reiz, und man darf sicher sein, daß einzelne Geschichten schon bald in den Schulbüchern zu finden sein werden. Im Sommer soll „der neue Grass“ kommen.

Und sonst? Noch mehr alte Männer: Victor Klemperers DDR- Tagebücher aus den Jahren 1945–59 („So sitze ich denn zwischen allen Stühlen“) sind vermutlich das Buchereignis des Frühjahrs. Der Historiker Eric Hobsbawm erhielt – neben dem kroatischen Verleger Nenad Popović – den Preis für europäische Verständigung, mit dem Leipzig ein Pendant zum Frankfurter Friedenspreis etablieren will. Die jüngeren Autoren versammelten sich in der Hochschule für Gestaltung zur Präsentation der von Thomas Hettche herausgegebenen Internet-Zeitschrift Null. Burkhard Spinnen gestand, daß er E-Mails immer online schreibt und so, im Wettlauf mit der Telefonrechnung, ein sportliches Grenzerlebnis erfährt. Dagmar Leupold und Thomas Hettche verteidigten den Text als Text gegen Link und Hyperlink, eine konventionelle Literatur gegen neue formale Möglichkeiten des Schreibens im Netz. Wieso, fragte das Publikum irritiert, bleibt ihr dann nicht einfach beim Buch? Aber da legte schon Thomas Meinecke Platten auf, der DJ als Autor, damit wenigstens kennt man sich inzwischen aus.

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