: Ein neuer Frühling kommt bestimmt
Freie Sicht für Schröder! Die Ära Tempodrom ist vorbei. Vergangenen Sonntag fand der große, ultimative und letzte Kehraus statt. Was nicht mehr verkauft wurde, übergab man dem senatsbewachten Feuer ■ Von Andreas Becker
Das „allerallerletzte Tempodrom-Shirt ging nachmittags um vier über den Tresen. Irene Moessinger persönlich kassierte das Kleingeld. Noch galt es, diverse angeschmuddelte Videokassetten, einen Nepal-Reiseguide und eine größere Yogadecke loszuschlagen. Morgens um 11 Uhr hatte man die letzten gelb-grünen Zirkus- und Bauwagen verkauft. Für die kleineren bekam das Tempodrom gerade mal 300 Mark. Sogar ihren eigenen Wohnwagen hat Irene Moessinger weggegeben.
Das Halbnomadenleben ist für Moessinger und ihre Crew jetzt wohl vorbei. Dort beim alten Postzeitungsvertrieb der Ex-DDR am Ostbahnhof. Dort, wo seit vergangenem Jahr auch das nette Maria residiert, wird das kleine Tempodromzelt demnächst seinen zweiten Frühling erleben. Das Programm steht noch nicht fest.
Bis Mittwoch muß Irene erst einmal den ehemaligen Parkplatz des Hauses der Kulturen „besenrein“ kriegen. Denn nichts soll den Senat daran erinnern, daß er hier eine quasi subventionsfreie Oase der Kultur verliert – unwiederbringlich. Dabei hat das Tempodrom im Vergleich zum BKA ja noch Schwein gehabt. Und 6 Millionen Umzugshilfe sind auch nicht zu verachten. Die restlichen 24 Milliönchen fürs neue Tempodrom am Anhalter Bahnhof dürfte man wohl auch zusammenbekommen. Ein wenig Geld wird das große Originalzelt mit der Erinnerung an Hunderte von klasse Konzerten dazu beitragen. Demnächst wird es vermietet.
Am Sonntag beim Kehraus sagte Moessinger, sie habe langsam genug vom vielen Abschiedfeiern. Als vorläufiger Abschiedssatz für taz-Leser fiel ihr spontan auch nur ein Achselzucken ein. Dann warf sie noch ein Stück alten Gartenzaun und Bühnenbretter (schluchz!) in die Flammen. Sogar das Lagerfeuer stand unter besonderem Schutz des Senats, zwei Kobs patrouillierten um die Flammen herum. Moessinger: „Dafür mußte ich extra 'ne Genehmigung einholen, willste se sehen?“ Die Sambatruppe der Ufa-Fabrik trommelte zum Lagerfeuer, und die nicht so zahlreichen letzten Besucher versuchten ihre nostalgischen Erinnerungen wegzuklatschen. Oder betranken sich mit Glühwein. Beim Starren ins Feuer kam einem der Abschied schon auch vor wie das Ende einer Epoche. Kaum Jüngere hatten sich eingefunden, wir Alternativis um die Vierzig schauten uns ratlos an, ich mußte irgendwie an die Platz besetzung in Gorleben denken. Lange ist es her.
Die Heimatklänge werden in der Übergangsphase beim Haus der Kulturen unterschlüpfen. Die Finanzierung dürfte, wie in jedem Jahr, bis zuletzt unklar sein. Vor allem, wenn der Hauptfinanzier, das Tempodrom selbst, wegfällt. Sponsor LBB, übernehmen Sie! Wenn man ganz ehrlich ist, wird das Tempodrom wohl eher eine emotionale denn eine kulturelle Lücke hinterlassen. Ein eigenes Programm wie mit dem hauseigenen Zirkus der ersten Jahre hatte man schon lange nicht mehr. Irene schien über die Jahre ein wenig der Elan auszugehen, kaum noch schien sie in der Lage, auch nur mittlere Lappalien, wie den Mangel an Fahrradständern, zu beheben.
Ein Problem fürs neue Tempodrom könnte die in den vergangenen Jahren vollzogene Neuordnung der Berliner Konzerthallen sein. Mit Arena und Columbia greifen gleich zwei attraktive Orte die typischen Tempodrom-Gigs ab. Huxleys und Metropol sind unauffällig verschwunden. Allzuviel Nachfrage nach einer Halle um die 2000 Plätze dürfte es in der Zukunft nicht geben. Freuen wir uns also eher auf Delphinshows im Liquidrom oder auf Esoterikkongressse. Auch Debis gehört als neuer Nachbar zu den Anwärtern. Kein Zweifel: Die Ära Tempodrom ist vorbei, gut, daß immerhin die Ufa-Fabrik den Kampf der Müslimenschen für artgerechtes Alternativaltern fortführt.
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