: Die Angst der Grünen vor einem Erdrutsch
■ Die Luftangriffe der Nato in Jugoslawien liegen nicht nur den grünen Parteifunktionären schwer im Magen. 13 Mitglieder haben bereits erbost die Partei verlassen, darunter der Beisitzer im Landesvorstand, Tilman Heller
Die einen sprechen von einer „Katastrophe“ für die Grünen, die anderen von einer „sehr schwierigen Situation“: Je länger die Luftangriffe der Nato in Jugoslawien dauern, desto unwohler fühlen sich die grünen Funktionsträger. 13 Berliner haben ihr grünes Parteibuch bereits zurückgegeben, wie der Schatzmeister von Bündnis 90/Die Grünen, Werner Hirschmüller, gestern bestätigte. Der bekannteste Parteiaustritt erfolgte durch den 23jährigen Studenten Tillman Heller. Er legte auch sein Amt als Beisitzer nieder. Ohnehin von den Grünen auf Bundesebene enttäuscht, war „der Angriffskrieg der Bundesrepublik“ für den zu sechs Monaten Haft verurteilten Totalverweigerer nur noch das Tüpfelchen auf dem i.
Jeden Tag rufen auch zahlreiche Menschen im Landesvorstand an, um gegen den Krieg zu protestieren. „Meistens sind es Wähler, die ankündigen, daß sie uns nicht mehr wählen“, so Hirschmüller. „Wir müssen aufpassen, sonst laufen uns nicht nur die Mitglieder, sondern auch die Wähler weg“, beschreibt Rüdiger Brandt, Assistent im mitgliederstärksten grünen Kreisverband Kreuzberg, das Dilemma. Brandt gehört zu den Unterzeichnern des vom linken Flügel initierten Aufrufs, den „Nato-Angriffskrieg sofort zu beenden“ und den „Weg für eine friedliche Lösung und langfristige Lösung des Kosovo-Konfikts offenzuhalten“. Einige Unterzeichnerinnen wie die Abgeordneten Judith Demba, Ida Schillen und Barbara Oesterheld fordern zudem einen Sonderparteitag der Grünen. Ob der stattfinden wird, ist noch offen.
Neben der Sorge vor einem Flächenbrand im Balkan sitzt den Grünen die Angst vor einem Erdrutsch bei den kommenden Wahlen für das Europaparlament im Nacken. Bei den vergangenen Wahlen 1994 erreichten die Berliner den Rekord von 14,3 Prozent. „Berlin ist eine Hochburg der Grünen, wir können es uns nicht leisten einzuknicken", meint der Kreuzberger Rüdiger Brandt.
Die Europawahlen im Juni sind nach Auffassung von Fraktionsgeschäftsführer Jürgen Wachsmuth nicht nur eine „Generalprobe“ für die kommenden Abgeordnetenhauswahlen, sondern auch Gradmesser dafür, „wie es um die rot-grüne Koaltion auf Bundesebene bestellt ist“.
Morgen kommen die rund 60 Mitglieder des Landesausschusses mit den Berliner Bundestagsabgeordneten Christian Ströbele und Franziska Eichstädt- Bohlig zusammen, um darüber zu diskutieren, was der Krieg im Kosovo für die Grünen bedeutet.
Christian Ströbele gehört zu der kleinen Minderheit von sieben grünen Bundestagsabgeordneten, die im Bundestag gegen den Kriegseinsatz gestimmt haben. Mit einer bundesweiten Initiative will er nun versuchen, enttäuschte grüne Parteimitglieder vom Austritt abzuhalten. Seit seiner emotionalen Rede im Bundestag kann sich Ströbele eigenen Angaben zufolge kaum noch vor Zuspruch erwehren. „Es ist mir schon fast peinlich. Aber egal, wo ich bin, ständig klopfen mir wildfremde Leute auf die Schulter und sagen: Richtig so.“ Plutonia Plarre
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen