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"Auf der Straße liegen Leichen"

■ Flüchtlinge berichten von Terror und systematischer Vertreibung aus dem Kosovo. Zigtausende sind zu Fuß und auf Traktoren nach Makedonien und Albanien geflohen. An den Grenzen herrscht Chaos

Im makedonischen Grenzort Blace sind in der Nacht zu Montag mehr als 1.500 Kosovo-Albaner angekommen. Sie sind erschöpft von der Flucht. Und traumatisiert, von dem was sie gesehen haben. Sie berichten, daß in der Kosovo- Stadt Kacanik Tote auf der Straße lagen. Andere beschreiben, daß Flüchtlingsgruppen von der serbischen Polizei umzingelt wurden. Ein Teil der Männer sei ausgesondert und weggeführt worden. Auf der serbischen Seite des Gebirges sollen sich 40.000 Kosovo-Albaner im Gebirge aufhalten.

Die Flüchtlinge, die im makedonischen Grenzort Blace ankommen, sind entweder in der kosovarischen Stadt Kacanik, 40 Kilometer südlich von Prishtina, oder in den umliegenden Dörfern aufgebrochen. Sie sind die ganze Nacht durch verschlammte Wälder und felsige Gebirge marschiert.

In Blace holen Verwandte aus Skopje und West-Makedonien sie mit Autos und Taxis ab. Sie gehören der 30 Prozent starken albanischen Minderheit in Makedonien an, die die rund 20.000 Kosovo- Flüchtlinge, die in den vergangenen Tagen in das kleine Nachbarland gekommen sind, aufgenommen und untergebracht hat. „Wir sind untereinander solidarisch“, sagt Isa Matluma, der selbst vor einem Monat aus Kacanik wegging. Jetzt wohnt er bei seinem Bruder in Skopje und hofft, seine Cousins lebend wiederzusehen.

Die jetzt kommen, sind vor dem serbischem Terror geflohen, der seit den Nato-Luftangriffen überall im Kosovo ausgebrochen ist. Vor und während ihrer Flucht wurden sie Zeugen von Verbrechen. „Mein Nachbar wurde erschossen“, berichtet die 38jährige Majka Kiciku aus Kacanik. „In meiner Stadt liegen Leichen auf der Straße“, sagt sie.

„Allein in meiner Straße hat es vier Tote gegeben“, berichtet der 30jährige Rexhep Rauk aus derselben Stadt. „Serbische Sonderpolizisten gingen in die Häuser und erschossen sie.“ Die Erschießungen selbst hat er nicht gesehen, wohl aber die Leichen.

Vom Tod des Apothekers Blerim Dema berichten mehrere Flüchtlinge. Die serbischen Polizisten holten ihn aus seinem Haus und führten ihn zu seiner Apotheke. Er mußte aufschließen und wurde im Innenraum erschossen. Die Apotheke wurde anschließend geplündert und in Brand gesetzt.

Der 55jährige Ismail Luta war vor drei Tagen mit mehreren Familien aus dem Dorf Ivaja bei Kacanik aufgebrochen. In einem Waldstück war die Gruppe plötzlich von serbischen Truppen umzingelt, berichtete Luta. Sie mußten sich in einer Reihe aufstellen. Frauen und Männer wurden getrennt, schließlich wurde ein Teil der Männer weggeführt. Ihr Schicksal ist ungewiß. „Die Hälfte meiner männlichen Verwandten ist unter ihnen“, sagt Luta bedrückt.

Aus dem Weiler Kodline berichten Flüchtlinge, daß sie die rund 60 Männer vor dem Trinkwasserreservoir aufstellen mußten. Zuerst wurden sie mehrere Stunden lang geschlagen und mißhandelt. Dann warfen die serbischen Polizisten sie in das Reservoir und warfen eine Handgranate hinterher. Wie viele der Männer das Blutbad überlebten, vermag niemand zu sagen.

Auch in Albanien sind Zigtausende Flüchtlinge angekommen. Allein am Montag überquerten rund 60.000 Menschen aus dem Kosovo die Grenzen nach Albanien, berichtet das Rote Kreuz. Die Flüchtlinge kommen auf Traktoren und Lastwagen. Von der Grenze an zieht sich ein kilometerlanger Flüchtlingstreck nach Albanien hinein. Das Flüchtlingshilfwerk der Vereinten Nationen (UNHCR) und kosovo-albanische Quellen sprechen von einer systematischen Vertreibung, an der auch serbische Freischärlergruppen beteiligt seien.

„Die meisten Flüchtlinge, die hier in Albanien ankommen, sind in sehr schlechter Verfassung“, sagte am Montag ein Vertreter der Föderation der Rot-Kreuz- und Rot-Halbmond-Gesellschaften in Tirana. Sie kommen zu Fuß oder auf Traktoren. Rot-Kreuz-Sprecherin Amanda Williamson sagte: „Die Zustände sind chaotisch; uns bietet sich ein sehr trauriges Bild.“

Nach Schätzungen des UNHCR haben in den vergangenen eineinhalb Jahren insgesamt mehr als eine halbe Million Menschen ihre Häuser im Kosovo verlassen. Gut die Hälfte von ihnen habe das Land verlassen. Die restlichen Vertriebenen seien im Kosovo geblieben, in Flüchtlingsunterkünften oder bei Verwandten untergekommen.

„Die Vertreibung dieser Menschen ist eine von Belgrad aus organisierte Aktion“, sagte gestern UNHCR-Sprecher Kris Janowski. In Montenegro, so das UNHCR, sei die Zahl der Flüchtlinge inzwischen auf rund 10.000 angewachsen.

Serbische Freischärler haben nach Angaben aus exilalbanischen Kreisen mit der systematischen Vertreibung aus Priština begonnen. Einheiten des Freischärler- Führers Zeljko „Arkan“ Raznatović gingen von Haus zu Haus, schüchterten die Menschen ein und forderten sie auf, die Stadt zu verlassen, berichtete die Partei des gemäßigten Albaner-Führers Ibrahim Rugova (LDK) nach Telefonaten mit Vertrauensleuten in Priština. Manche Flüchtlinge würden auf Lastwagen verfrachtet und in das Dorf Zhur in der Näche der albanischen Grenze transportiert, berichtet eine andere albanische Quelle. Die serbische Polizei habe einen Korridor für die Flucht aus Priština geöffnet. Die Führung der Kosovo-Albaner hielt sich versteckt.

Die jugoslawische Regierung habe zu Beginn der Nato-Luftangriffe bewußt paramilitärische Einheiten in den Kosovo geschickt, um die Bevölkerung über die Grenzen nach Albanien, Montenegro und Makedonien zu treiben, glaubt das UNHCR. Die Vertreibung erfolge immer nach demselben Muster, erklärte der UNHCR- Sprecher: „Sie kommen in das Dorf, brennen die Häuser nieder und drohen den Bewohnern, sie zu erschießen, wenn sie das Land nicht verlassen. Tagsüber ist die Grenze nach Albanien offen, nachts wird sie wieder geschlossen, damit von dort keine Waffen kommen.“ Gregor Mayer

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