: Angst vor dem Absturz
Nur ein Drittel der Ostdeutschen ist auf dem Arbeitsmarkt integriert. Der Rest geht einer unsicheren Beschäftigung nach oder hängt am staatlichen Tropf. Wie gewöhnen sich Menschen an Arbeitslosigkeit? Eine neue Studie über Erwerbslose in den neuen Bundesländern, vorgestellt ■ von Barbara Dribbusch
Wie gewöhnt sich eine Gesellschaft an Massenarbeitslosigkeit? Die Frage wird bisher selten offen gestellt, dabei sagen alle Prognosen, daß die Zahl der Erwerbslosen in den nächsten Jahren nicht nennenswert sinken wird. Studien zeigen, daß Arbeitslose ihre Situation sehr unterschiedlich wahrnehmen, je nachdem wie hoffnungsvoll sie in die Zukunft blicken. Die Nichtarbeitslosen wiederum leiden nur dann unter Massenarbeitslosigkeit, wenn sie Angst haben müssen, selbst abzustürzen.
Forscher am Soziologischen Forschungsinstitut SOFI in Göttingen fanden schon vor Jahren heraus, daß sich Arbeitslose im Westen um so ausgegrenzter fühlen, je weniger Einfluß sie noch auf ihre Erwerbsbiographie nehmen können. SOFI-Forscher Berthold Vogel hat diesen Ansatz jetzt auf den Osten übertragen. Vogel wertete Daten des Arbeitsamtsbezirkes Neuruppin aus und befragte im Jahre 1994 88 Arbeitslose ausführlich nach ihrer Befindlichkeit, ihrem Alltag und ihren Hoffnungen.
Der Forscher geht davon aus, daß im Osten eine „Zweidrittelgesellschaft“ neuer Qualität entsteht. Nur einem Drittel der ostdeutschen Bevölkerung ist es gelungen, sich dauerhaft im neuen Erwerbssystem einzurichten und den Anschluß auch an zukunftssichere Jobs zu finden. Ein weiteres Drittel werkelt hingegen auf befristeten Stellen, ist nur geringfügig beschäftigt, macht Hilfsjobs oder ist auf der Basis von ABM und in anderweitig subventionierten Stellen untergebracht. Das letzte Drittel hängt direkt am Tropf des Staates und muß sich als oftmals schlecht qualifizierter, älterer Arbeitsloser damit abfinden, keine Erwerbsperspektive mehr zu haben.
Die Mehrheit der Erwerbssuchenden und viele Beschäftigte leben somit in einem Zustand der Unsicherheit. Dennoch sind nicht alle der deindustrialisierten Ostregionen „depressed areas“. Am Beispiel Neuruppin zeigt Vogel, daß sich gleichzeitig eine neue Mittelschicht entwickelt. Die unsichere Lebenssituation vieler Arbeitsloser koexistiert mit einem stabilen Handwerk, privaten und öffentlichen Dienstleistungen und einem breitgefächerten „zweiten“ Arbeitsmarkt. Die Erwerbslosen sind um so besser dran, je weniger sie sich abgehängt fühlen.
Innerhalb der Gruppe der befragten Arbeitslosen bildet Vogel drei Typen heraus. Am besten geht es dem ersten Typus, dazu gehören jene, die jünger sind, einen beruflichen Abschluß haben und meist kürzer als ein halbes Jahr arbeitslos sind. Rund ein Fünftel der Befragten zählte Vogel zu dieser Gruppe. Diese Befragten betonten die Bedeutung von „eigener Leistung“: „Zu DDR-Zeiten, da mußte ja alles behalten werden an Personal, Trinker, Ahnungslose, alle die wurden bezahlt wie alle anderen auch“, beklagte sich eine 32jährige jobsuchende Arbeiterin.
Diese Erwerbsssuchenden nehmen „nicht jede Arbeit, bestimmt nicht. Dann hätte ich ja die Arbeit bei A. auch annehmen können. Die Bezahlung muß stimmen mit dem Verhältnis zur Arbeitszeit, so einfach“, erklärte eine 21jährige ehemalige Industriearbeiterin.
Nahezu die Hälfte der befragten Arbeitslosen ordnete Vogel dem zweiten Typus zu. Diese Leute sind eher mittleren Alters, viele schon fast ein Jahr arbeitslos. Sie gehörten zur Industriearbeiterschaft in der DDR. Sie erleben ihre Situation als eine erwerbsbiographische Blockade. Überdurchschnittlich viele dieser Befragten haben bereits „ABM-Karrieren“ hinter sich gebracht und befürchten, dadurch eher vom ersten Arbeitsmarkt ausgesondert als integriert zu werden. „Wenn man erst mal in ABM ist, dann kommt man da nicht mehr raus. Nicht mehr ganz tauglich für die richtige Arbeit“, befürchtet ein 37jähriger jobsuchender Industriearbeiter. Viele Frauen gehören zu dieser Gruppe. Die Familie vermag die Joblosigkeit nicht zu kompensieren. Für den dritten Typus ist die Arbeitslosigkeit der erwerbsbiographische Endpunkt. Viele davon sind älter und schlecht ausgebildet.
Diese Arbeitslosen resignieren, bemühen sich gar nicht mehr um einen Job und stellen sich sozial „tot“. „Ich muß Ihnen ehrlich sagen, ich habe jetzt die Lust verloren, am Anfang hatte ich noch mehr Hoffnung“, erklärte eine 52jährige ehemalige Arbeiterin aus der Landwirtschaft. Die Befragten dieses dritten Typus fühlten sich als die eigentlich „Überzähligen“, so Vogel.
Eine Gesellschaft kann sich aber nicht einfach an die Massenarbeitslosigkeit gewöhnen, indem sie die „Überzähligen“ durch Alimentierung ruhigstellt. Denn die Angst, eines Tages selbst zu den Verlierern zu gehören, erzeugt auch bei den unsicher Beschäftigten eine „Statuspanik“, so Vogel. Er warnt vor den Folgen einer „fundamental instabilen Arbeitsgesellschaft“. Vor diesem Hintergrund müsse auch die Verdrossenheit gegenüber demokratischen Institutionen und die Zunahme des Rechtsextremismus diskutiert werden. Für eine „Gewöhnung“ an Massenarbeitslosigkeit wäre demnach immer ein Preis zu zahlen. Wie hoch der sein wird, weiß heute noch niemand.
Berthold Vogel: Ohne Arbeit in den Kapitalismus. Der Verlust der Erwerbsarbeit im Umbruch der ostdeutschen Gesellschaft. VSA-Verlag, Hamburg 1999, 238 Seiten. 38,80 Mark
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