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Die Kraft der Abweichung

Bevor er Tänzer wurde, untersuchte Xavier Le Roy Gewebeschnitte. Das hat Folgen – bis heute. Porträt eines Späteinsteigers  ■ Von Katrin Bettina Müller

Xavier Le Roy ist ein Meister der Verfremdung: Seine Glieder verselbständigen sich in virtuosen Vorstellungen, die kaum etwas von der Einheit des Subjekts übriglassen. Als „Körperaufspalter“ stellte ihn Ballett International vor. Im Podewil nimmt er im Programm „Körperstimmen“ sein Solo „Self- Unfinished“ wieder auf und blickt mit dem Vortrag „Product of Circumstances“ auf seine Zeit als Biologe zurück.

Vor zwölf Jahren konnte er mit seinen Händen nicht mal seine Füße erreichen. Damals begann er an einem Institut für Krebsforschung in Montpellier Methoden zur schnelleren Zählung bestimmter Gene zu entwickeln und jobte nebenbei als Kartenabreißer auf dem Tanzfestival. Heute kann der 1992 nach Berlin gekommene Tänzer Arme und Beine zu Kringeln und Achten biegen. In „Self-Unfinished“ packt er einmal den rechten Fuß mit der linken und den linken mit der rechten Hand und läßt diese Schlaufen auseinander- und ineinanderfahren, daß man an Schlangenbeschwörer und ein Duett zweier Tänzerinnen denkt.

Doch auf das Staunen über diese artistische Geschicklichkeit kommt es ihm nicht an. „Ich suche die Transformation von ganz normalen Bewegungen. Mich interessiert der Moment, wo sich die Wahrnehmung des eignen Körpers verändert“, erzählt Le Roy. Da sitzt er am Schreibtisch im Probenraum des Podewil und wickelt die langen Beine umeinander. Und schon erkennt man den Tänzer wieder, bei dem in jeder noch so vertrauten Geste der Ansatz zur Verwandlung steckt. Der einen Unterarm wie einen Propeller kreisen lassen kann. Dessen Finger über seinen Rücken krabbeln wie Spinnen über einen Stein. Schlenkernd, schlaksig, ohne Anstrengung.

Das Trauma der Zerstückelung

Bloß „keinen Kampf gegen den Körper, keine Erziehung, daß er was schaffen muß.“ Le Roy hat die Normen der Wissenschaft nicht verlassen, um sich dann einer normativen Ästhetik zu unterwerfen.

Solange die Anatomie das Wissen vom Körper bereitstellte, waren die Körperbilder aus Kunst und Wissenschaft einander nahe. Doch seit der instrumentalisierte Blick immer tiefer in den Körper eindringt, wird dessen Landschaft immer befremdlicher. Äußeres Bild und inneres Geschehen sind kaum noch zur Deckung zu bringen. Auf das Trauma der Zerstückelung reagiert der Horrorfilm ebenso wie der zeitgenössische Tanz.

In den Stücken von Xavier Le Roy wird das Publikum zu Laboranten, die angespannt seinen Entdeckungsreisen in die Grenzbereiche des anatomisch Möglichen folgen. Er kehrt das Unterste nach oben und verändert mit der Körperposition die Wahrnehmung. In „Self-Unfinished“ steht er lange auf den Schultern, den Kopf weggeklemmt, den Rücken zum Publikum, die nackten Hinterbacken hochgereckt. Arme und Beine wechseln ihre Rollen. Oft erinnert dieser Torso an ein gerupftes Huhn: die unerotischste Nacktheit, die man sich vorstellen kann. Dennoch zieht einen das Vertraute an diesem fremden Wesen an. Stimmen innere Vorstellung und äußeres Bild überein? Was passiert, wenn die Kontrolle durch den Gesichtsinn ausfällt?

Dabei haben Le Roys Verfremdungen auch etwas Komisches. Einmal stapft er wie ein Roboter über die Bühne, dessen Glieder knarrend hydraulisch gesteuert werden. Dann beugt er sich vor, zieht das Hemd über den Kopf und tanzt vierfüßig, als ob Frau Oberkörper mit Herrn Unterleib zum Ball ginge. Wie Buster Keaton, der mit unbeteiligtem Gesicht Schiffsuntergänge und andere Katastrophen überstand, verzieht Xavier keine Miene zu den Verwicklungen seiner Glieder.

Ein Leitmotiv seiner Tanzforschung ist: Wie erhält der Körper die Chance, etwas zu werden, was er noch nicht gewesen ist. Damit versucht er aus der Abweichung vom Normalen eine utopische Kraft zu gewinnen. Unter einem umgekehrten Vorzeichen stand seine Arbeit als Molekularbiologe, wurde doch dort jede Abweichung als Symptom der Krankheit gelesen. Le Roy erzählt von seinem wachsenden Zweifel, ob die Spezialisierung auf das Verhalten einiger Gene tatsächlich den Körper verstehen hilft. Vor allem entzündete sich seine Kritik an dem Druck, zu veröffentlichen, Ergebnisse zu produzieren, um den Sinn der Forschung sicherzustellen. Deshalb entschloß er sich nach dem Abschluß seiner Doktorarbeit 1990 zur Flucht in den Tanz.

Doch „der Wechsel hat nicht so funktioniert, wie ich dachte“, gesteht der Tänzer heute, hat ihn doch in der Kunst der Produktionszwang wieder eingeholt. Nicht zuletzt aus dem Wunsch heraus, dieser Ergebnisorientierung auszuweichen und die Bedingungen für die Genese eines Stückes selbst zum Thema werden zu lassen, ist der biographische Vortrag entstanden. Für den Laien bleiben die fachspezifischen Erläuterungen in englischer Sprache, zu denen Dr. Le Roy seine alten Dias von Gewebeschnitten wieder ausgegraben hat, befremdlich. Zitate aus seinen Trainingsstunden und eigenen Stücken unterbrechen den Text.

Mit diesem trockenen Nebeneinander verwahrt sich Le Roy gegen eine Romantisierung der Verbindung von Wissenschaft und Kunst. „Zur Zeit ist es in, Wissenschaft und Kunst zusammenzubringen. Aber es ist ein Phantasma, daß beide zusammen etwas ganz Tolles und Universelles hervorbringen könnten.“ Denn selbst der Trennung von Theorie und Praxis, die er in der Wissenschaft kritisierte, konnte er im Tanz nicht entkommen. „Man kann den Körper doch nicht nur biologisch, nur sozial oder nur ästhetisch betrachten“, meint er und vermißt einen Diskurs, der den Tanz durch eine Auseinandersetzung mit Theorie und Geschichte stützen könnte.

Xavier le Roy: „Product of Circumstances“ am 3. und 4. April, „Self-Unfinished“ am 6. und 7. April, im Podewil, jeweils um 20.30 Uhr

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