Gezielter Schrei, kurz vor dem Bodenaufprall

■ Manchmal hilft nur haltloses Schwärmen: „At The Drive-In“ tobten am Samstag UND am Dienstag, exklusiv für alle Suchtler

Die SZ-Beilage „Jetzt“ ist zwar nicht gerade ein süddeutsches Hardcoremagazin mit Szene-Relevanz, aber auch dort hat es sich herumgesprochen. Daß nämlich „At The Drive-In“ aus El Paso in Texas nicht einfach nur eine Band von vielen sind, die sich am Erbe von Legenden wie „Fugazi“ oder „Rites Of Spring“ vergreifen und ansonsten die richtigen Leute kennen, um als Geheimtip gehandelt zu werden. „At The Drive-In“ sind heiß, auch wenn das jetzt vielleicht ein bißchen infantil klingen mag. Schon auf ihrer jüngsten Schallplatte „in/CASINO/OUT“ (Fearless Records/Cargo), die mit einiger Verspätung jetzt auch bei uns zu kaufen ist, ist diese Energie, diese Spannung zu hören, unter der die fünf jungen Männer zu stehen scheinen. Cedric Bixlers Stimme balanciert ständig vor dem Abkippen, bringt die Melodie nur unter Aufbietung aller Disziplin sicher nach Hause, aber manchmal hilft nur noch ein gezielter Schrei.

Die Band spielt dazu angemessen energisch. Der Versuchung, ob des emotionalen Ausdrucks in schlichten Strukturen selbstgenügsam vor sich hin zu lärmen, erliegen sie nicht. „At The Drive-In“ wissen um die Möglichkeiten, die in dynamischen Schwankungen, unversehenen Taktkürzungen und sorgsam plazierten Brüchen liegen. Die Spannung zwischen Konstruktion und dem intensiven Ausdruck von Befindlichkeit machen die Shows von „At The Drive-In“ zu Ereignissen.

Cedric Bixler befindet sich mehr in der Luft und am Boden als dazwischen, schlingt sich das Kabel von seinem Mikrophon um den Hals oder läßt es ganz rockstarrend durch die Luft fliegen. Mal hängt er von Rohren an der Decke, falls es sowas gibt, oder sucht sich ein Plätzchen auf den Boxen, mal wälzt er sich zu Füßen seines Publikums. Und weil alles so schwer auszuhalten ist, die Welt, die Wut, was auch immer, muß er sich manchmal vergewissern, daß er da oben auf der Bühne nicht allein ist. Dann faßt er dem Gitarristen ans Hemd oder wuschelt ihm kurz durchs Haar. Wenn er dann doch einmal stillsteht, hält es ihn nur unter Mühen am Platz, er vibriert sichtbar, wie die ganze Band vibriert, und lustig sieht er mit seinen 1,60 Metern und seinem Afro auch noch aus. Trifft man ihn nicht auf der Bühne an, ist er einfach nur nett und erzählt Geschichten über Typen, die dafür Credits auf Stevie Nicks Platten bekommen haben, daß sie der Dame rektal Kokain zuführten, weil Nicks' Nase nicht mehr geeignet für das geliebte Hobby war. Deshalb hätten sie einen Song Stevie Nicks gewidmet, erklärte Cedric mit einem schalkhaften Grinsen auf meine etwas irritierte Frage.

Am Dienstag im Tower, wo „At The Drive-In“ kurzfristig noch als erste Band für das Konzert mit „Good Riddance“ und „88 Fingers Louie“ eingesprungen waren, war zwar das ganze Drumherum nicht so gut wie am Samstag zuvor, wo eine warme Nacht einem sonnigen Tag folgte, die Crowd schon durch drei Bands und sicher auch mit ein paar Drinks vorbereitet war. In der verbrauchten Luft des Kellers, Schweiß, Bier, geriet ihr Auftritt zum Triumph. Leuchtende Augen bei kurzhaarigen Hardcore-Kids, versprengten Langhaarigen und gereiften Punkrockerinnen – ein Moment, in dem sich alle einig waren. Das ist es vielleicht, was Typen wie Martin-„Da kommt mir wieder nur der Rolling Stones-Vergleich in den Sinn“-Büsser vermissen, wenn sie sich auf Hardcore-Konzerten mittlerweile einfach nur noch langweilen.

Und daß der Elan, mit dem „At The Drive-In“ am Samstag im Magazinkeller geROCKt hatten, nicht das Zufallsprodukt einer mehr oder weniger zufälligen Anhäufung günstiger Umstände war, bewies ihr Auftritt am Dienstag. Bereits nach ein paar Takten war diese Intensität wieder spürbar. Als gälte es in der knappen halben Stunde, die ihnen zugestanden wurde, sich eine ganze Busladung voll angestauter Energien von der Seele zu spielen. Als gäbe es kein Morgen. Als gäbe es keine Tour, die sie in den nächsten Wochen durch Europa führen wird. Andreas Schnell