: Dauerapokalypse in D-Dur
Letztes aus dem Nachlaß Rolf Dieter Brinkmanns: Die „Briefe an Hartmut“ sind das Dokument einer produktiven, aber unglücklichen Liebe zu Amerika, Film, Rock'n'Roll. Am Wesen technischer Medien sollte einmal die Welt genesen ■ Von Thomas Groß
Die Kunst, von Null auf 180 zu gehen, macht ihm so schnell keiner nach. Häßliche Menschen, häßliche Straßen, häßliche Verhältnisse, in denen man kaputtgehen muß — ansatzlos, von der ersten Zeile an ist er wieder da, der vertraute Brinkmann-Sound, eine Endlos-Suada gegen die Verhältnisse, die keine Handlung kennt, keine Geschichte, kaum Entspannung, sich widerwillig nur zwischen zwei Buchdeckel zwängen läßt, auf denen diesmal „Briefe an Hartmut“ geschrieben steht.
„Präsenz“ nennt die Bühnensprache das Phänomen, das jede weitere Lieferung aus dem Nachlaß Rolf Dieter Brinkmanns nicht wie ein Schriftereignis, sondern wie einen Comebackversuch wirken läßt. Der Text will und will nicht veralten, weil er vom Augenblick selbst handelt, den er gegen den Rest der Welt stark macht. Das zumindest haben sie begriffen, die Slam-Poeten und Theater- Rocker, die mit ein paar aufgewärmten Brinkmann-Zitaten ganze Abende über die Rampe bringen. Fast ein Vierteljahrhundert nach dem Tod des Autors ist sein Text in der Arena der Kleinkunst gelandet, wo er für die späten Neunziger den Wunsch nach radikaler Negation verkörpern muß: elektrisch verstärkte, unversöhnliche Dichtung, die das 21. Jahrhundert anbellt.
Doch Brinkmann war eben nicht nur Held, sondern auch HB- Männchen, und kein Nachlaßband zeigt dies so deutlich wie „Briefe an Hartmut“. Mit enervierender, gebetsmühlenartiger Verve wird die Dauerapokalypse zelebriert, ein Endlosblues in D-Dur, der „Deutschland“ die Schuld an allem gibt, wahlweise höchstens noch klapprigen Rentnern oder aufgedressten Frauen. Neu und erstaunlich an den Hartmut-Briefen ist nicht der kalauernde Haß auf „Akademicker“ und „Viehlologie“, sondern der Eifer, mit dem der große Intellektuellenfresser Brinkmann selbst poetologisch aktiv wird. Und wie penibel! Für eine Magisterarbeit über seine Gedichte, die der Student Hartmut Schnell schreiben will, entwirft der Autor Themenlisten, gibt Verständnishilfen, legt Quellen offen. Noch mitten in der Nacht kommen ihm Einfälle, die er hintippt, bis er selbst nicht mehr mehr unterscheiden kann, was bereits gesagt ist und was nicht. Unmerklich gleiten die brieflichen Poetikvorlesungen in ein Selbstgespräch hinüber. Es ist, als müßte Brinkmann sich in diesen vermutlich letzten Notizen vor seinem Unfalltod im April 75 noch einmal darüber klar werden, wo er eigentlich herkommt, wann die Verwirrung losging, der „Wusel“, und wo die positiven Impulse liegen. Heute kann das jeder hören, in den Siebzigern war es ein neuer Ton: „Sweet was my Rose ...“ Brinkmanns Gedichte, vor allem die des posthumen Bandes „Westwärts 1&2“, spielen schon in ihren Titeln auf populäre Songs an, sie sind der Reflex einer produktiven, aber letztlich unglücklichen Liebe zu Amerika, Film, Rock'n'Roll.
Schwierig ist es, ein Sänger zu sein, wenn man immerzu kotzen möchte: „(ich wüßte, daß ich hübsche Rock'n'Roll-Lieder schreiben könnte, lebte ich länger in den USA)“, tippte Brinkmann am 23. 12. 1974 in seine klapprige Schreibmaschine, im Konjunktiv und in Klammern, denn da war er bereits wieder zurück von seinem Trip: vier Monate Austin, Texas, eine Gastdozentur auf Einladung des dortigen German Department, wo er auch Hartmut und Betsy Schnell kennenlernte. Hartmut hatte es tatsächlich geschafft auszuwandern, was Brinkmann maßlos beeindruckt haben muß, der jetzt wieder mit Frau und Kind in seiner Wohnung in der Kölner Engelbertstraße saß, ein mittelloser Poet in beengten Verhältnissen, stuck inside of Cologne with the german blues again.
In der Ferne vorausgeträumt
Im Rückblick erscheint nicht Rom, wo Brinkmann eine Zeit als Stipendiat der Villa Massimo zubrachte, sondern Austin als neues Arkadien. Hier war er Mensch, hier durfte er's endlich sein. Noch die provinziellste Kneipe, in der Livemusik läuft, wird deutschen „Hippiemuff“-Lokalen als leuchtendes Exempel entgegengehalten. „New Homes“, „totally nude“, „Bellburger“, an diese Signets heftet sich die Erinnerung wie an eine Verheißung, taucht ein in eine Szenerie der Weite, in der Hartmut am Steuer sitzt und die Anlage aufdreht: „Zack, kam der Schlag aufs Schlagzeug, bei Lou Reeds Transformerplatte. Und draußen schwebte farbiges Licht herum, ganz langgezogen über dem seltsam flachen, ausgedehnten Land. Und dann geisterte Johnsoncity nachts vorbei am Auto entlang, weiße Holzgitter, ein Futtersilo.“
Der Text „erfindet“ nichts, aber er hat etwas Halluzinatorisches. Heraufbeschworen wird ein Land, das wenig mit der politischen Realität der Vereinigten Staaten zu tun hat, es ist rein ästhetisch verfaßt. Rolf Dieter und Hartmut sind „on the road“ im Geiste Jack Kerouacs, sie bewegen sich durch ein Amerika, wie es anhand von Büchern, vor allem aber Kinofilmen und Rockmusik in der Ferne vorausgeträumt war. Und als sollte der Traum endlos weitergehen, läuft auf der Tonspur eine aktuelle Variante davon, geht der Drumbeat ein in eine Sensibilität des Augenblicks, deren Reflex als endloses Fangespräch durch die Briefe geistert: „Hast Du inzwischen Softmachine Platte 1?“ — „Gibt es schon eine LP von Greezy Wheel?“ — „Die neue Platte von David Bowie ist ein Hammer“.
In Erinnerung an Austin formuliert sich jene Art von Diskurs, wie er noch heute unter Popsozialisierten geführt wird: großes Jungsspiel um immer feiner werdende Kennerschaften. Die Initiation freilich erfolgte in diesem Fall früher. Brinkmanns gesamtes Werk läßt sich als Variation zweier Schlüsselszenen lesen. Die eine spielt in einem ländlichen Kino in dem Augenblick, in dem das Licht ausgeht und der Projektor an, die andere in einer Eisdiele der fünziger Jahre, in die Rock'n'Roll-Musik hereingeweht kommt, augenblicklich die Griechischübersetzung vergessen macht, und mit ihr alle lastenden Verbote der Adenauer-Ära. Rock und Film stiften jene generationsspezifische Sensibilität, die Brinkmann in den späten Sechzigern, vom Feuilleton zum „Chefpiloten der Poplyriker“ gekürt, Sturm laufen ließ gegen alles, was noch nach Europa roch, nach deutschem Muff oder „alten Dichtern“.
Avantgardistisch war dieser Impuls, weil er anerkannte, daß längst nicht mehr alle Macht vom Buche ausgeht, Projektoren und Verstärker viel unmittelbarer in den Körper eingreifen. Kein deutscher Schriftsteller hat seine Produktion so früh und so radikal auf den Sachverhalt abgestellt, daß das Imaginäre zu den technischen Medien übergelaufen ist wie Rokkin' Rolf Dieter Brinkmann. Das macht ihn noch heute zum geheimen Verbündeten aller verbliebenen Dissidenzen im poptheoretischen Feld. Doch genau deshalb konnte es ihm nicht genügen, daß die neuen Kulturtechniken das tun, was sie nun einmal tun: Augenblicksekstasen stiften. Rock muß auf Dauer von den Schrecken der Kriegskindheit erlösen, Kunst und Leben vereinen, sämtliche Verhältnisse ästhetisch umwälzen.
Revolution come and gone
Es ist eine spezifisch deutsche Konstellation, die den Brinkmannschen Textstrom der späten Jahre über alle Ufer hinaustreibt: Am Rock- und Filmwesen soll die ganze Welt genesen. Weil sie sich aber aus diesem Punkt heraus nicht kurieren läßt, läuft der Text Amok. Brinkmann will nicht begreifen, daß die ästhetische Innovation der frühen Siebziger mehr einem Modernisierungsprozeß ähnelt als einem Heilsgeschehen. Wieder und wieder rennt er gegen die nunmehr von der Hippiegeneration verwaltete Welt an. Und je mehr diese sich auf ihrem langen Marsch in den neuen Machtverhältnissen einzurichten beginnt, desto harscher beharrt er zumindest negativ auf dem Ruf: „Alle diese Kriegs- und Nachkriegsneurosen zittern in dieser Generation.“ Sie zittern gewaltig im Textgeröll, doch sie bleiben sich selbst auch undurchsichtig. So kompromißlos die späten Brinkmann- Texte gegen die beginnende Toskana-Fraktion anpunken, so blind sind sie ihrem eigenen Erbe gegenüber. Ähnlich wie in den Schriften der RAF, die gelegentlich herbeizitiert wird, revoltiert ein schreibender Attentäter gegen ein metaphysisch verfaßtes „Deutschland“, dessen universelle Häßlichkeit jeden Ausfall rechtfertigt. Wiederholen, gar auf politische Verhältnisse verrechnen läßt sich diese Konstellation nicht. Die „Briefe an Hartmut“ sind ein letztes Dokument der Enttäuschung darüber, daß die Revolution, Ende der Sechziger scheinbar zum Greifen nah, nur als Triumph der Warenästhetik stattgefunden hat. Nachts an der Schreibmaschine spekuliert der Autor, daß Rock'n'Roll und Country in den USA, „soviel das auch durch Technik und Kommerzielles später verdrängt und verquer wird, ein richtig legitimer ,kultureller‘ Ausdruck der Bevölkerung ist“. Nach dieser Selbstverständlichkeit hat Rolf Dieter Brinkmann ein Leben lang gefahndet.
Rolf Dieter Brinkmann: „Briefe an Hartmut“. Rowohlt Verlag 1999, 248 S., 45 DM
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