: Erinnerungen an eine Familie
Vor 25 Jahren begann mit einem Grand-Prix-Sieg der Aufstieg der schwedischen Band Abba zur Weltberühmtheit. Noch immer ist er nicht beendet – obwohl das Quartett seit 17 Jahren nicht mehr zusammen spielt. Das Erfolgsrezept: kein Exzeß, nirgends ■ Von Jan Feddersen
Noch im Januar waren sich Benny Andersson und Björn Ulvaeus nicht einig, mit welchem Song sie beim „Melodifestival“ antreten sollten: Mit „Hasta Mañana“ würden sie verhältnismäßig risikolos die schwedische Vorentscheidung zum Grand Prix d'Eurovision des Jahres 1974 gewinnen. Der andere Titel hingegen könnte wieder durchfallen, so wie im Jahr zuvor „Ring, Ring“, der den Fachjurys offenbar zu temporeich war – und zu poppig.
„Waterloo“ war zweifellos ein Risiko. Aber nur mit dieser dreiminütigen bunten Plateausohlenshow gäbe es international eine Chance, den Contest vor irgendeiner der üblichen Balladen zu gewinnen. Anders als im Vorjahr bei „Ring, Ring“ wurde das Studioarrangement von überfordernden Ornamenten befreit. Auf die schon damals typische Abba-Manier, die Einzelstimmen von Agnetha Fältskog (die Blonde) und Annafrid Lyngstad (die Dunkle) bis zu dreißigmal übereinanderzusampeln, Gitarren und Schlagzeuge aufzumotzen, so daß am Ende ein Soundwall wie bei Phil Spector herauskam, wurde zugunsten einer eurovisionstypischen Schlichtheit verzichtet: Bloß nicht die Welt belehren oder gar überfordern! Immerhin blieb „Waterloo“ der wohl frischeste und beatigste Song der Geschichte des Schlagerwettbewerbs.
Der Sieg in Brighton am 6. April 1974, einem Sonnabend, abends gegen 23.31 Uhr, fiel sogar würdig aus. Schon die Punktwertungen der ersten sechs von achtzehn Ländern hätte für das Entree in den Weltmarkt gereicht. Italiens Gigliola Cinquetti („Si“) blieb Zweite, Cindy & Bert („Sommermelodie“) wurden, Lichtjahre vom Popzeitalter entfernt, Allerletzte. Benny Andersson (der Blonde an der Sternenglittergitarre) sagte später, eher kleinmütig: „Vielleicht wär' es mit uns ohne ,Waterloo‘ nichts geworden.“ Björn Ulvaeus (der Bärtige am Klavier) sagt indes noch heute selbstbewußt: „Wir hätten unseren Weg so oder so gemacht. Wir wußten, daß wir komponieren und arrangieren können.“
Doch ehe aus Abba mehr wurde als eine Lebensmittelfirma, die auf Meeresfrüchte spezialisiert ist, bevor Abba-Songs leitmotivisch genutzt wurden für den Emanzipationskampf junger Frauen (in „Muriels Hochzeit“) und schwuler Männer (in „Priscilla“), mußte die Gruppe einige LPs vorlegen – und sterben. Denn der Abba-Mythos, der postume Glaube, es mit einer intakten Familie zu tun gehabt zu haben, mit freundlichen Menschen, mit idealen Erziehungsberechtigten, wuchs erst Anfang der neunziger Jahre.
„Waterloo“ reifte nur langsam zum Hit heran; erst vier Wochen nach dem Sieg beim Song-Contest avancierte das Lied in den europäischen Charts. Eine Eintagsfliege? Jedenfalls eine Band, von der die Popkritik keine Notiz nahm. Obwohl plötzlich auch „Ring, Ring“ und „Hasta Mañana“ sich bestens verkauften. Das Unbehagen der Kritiker, gewöhnt, als Meßlatte all ihrer Urteile die Beatles, die Rolling Stones oder Bob Dylan heranzuziehen, wuchs, als Abba mit „Arrival“ (1976) sich immer noch am Leben zeigte. „Dancing Queen“ daraus mutierte zum einzigen No. 1-Hit in den USA. Der Rolling Stone, im Geiste der Achtundsechziger gegründetes Zentralorgan der Musikpresse, zeigte sich gnädig: „Auf geheimnisvolle Art mitreißend.“
Was Abba unterschied, war zwei Jahre nach Brighton eindeutig zu skizzieren: Anders als die Beatles war das keine Gang von vier Jungs, die nötigenfalls auf Groupies zurückgriffen, um hormonell über die Runden zu kommen. Abba waren – obwohl erst viel später standesamtlich beglaubigt – zwei Paare. Das eine mehr elterlich mit dem Bärtigen und der Dunklen, das andere eher spätpubertär mit dem und der Blonden. Für die blonde Agnetha schwärmten heterosexuelle Jungs, die dunkle Annafrid hatte Fans bei den Jungs, die später mit Frauen lediglich freundschaftlichen Umgang pflegen wollten, und solchen, die ihre Bedürfnisse nach Schutz bei der Blonden wenig respektiert wähnten. Die Paare verkörperten so etwas wie eine moderne Familie: Männer und Frauen, die sich verstehen, die sich als Gleiche begreifen und die weit von jedem Lebenseskapismus entfernt schienen.
Alles war auf experimentelle Weise wohltemperiert. Abba beim Joggen, Abba beim Essen, Abba beim Musizieren: Keine Exzesse nirgends – das war die Antwort der Kinder von Achtundsechzig auf die Ausbrüche ihrer Eltern. Abba war das musikalische Gemurmel gegen eine unübersichtlich werdende Welt, gegen die Ansprüche von Rock und Punk sowieso. Mit den Schweden war es möglich, gegen die hadernden und nörgelnden Älteren mit ihrer ewigen System- und Gesellschaftskritik zu protestieren und sich zugleich von den spießigen Eltern abzugrenzen, die in Abba zwei Paare erkannten, die sich scheinbar nie in die Niederungen des Ehestresses hinabbegaben. Kein Wunder. Abba-HardcoreFans waren nie älter als vierzehn – und Kinder sind, was System- und Beziehungsfragen anbetrifft, bekanntlich die strukturkonservativsten Menschen.
Dabei waren Abba – auf ihre Art – nicht unpolitisch. Die Rechte an „Chiquitita“ überließen sie Unicef; in Südafrika aufzutreten weigerten sie sich öffentlich, ärgerlich bekundend, daß ihre Musik gegen jede Apartheid gerichtet sei.
Daß Abba sich überhaupt acht Jahre lang an der Spitze hielten, Jahr für Jahr LPs (und Clips) produzierten, es damit länger machten als die Beatles bis zum Gruppencrash, ist nicht wirklich verwunderlich. Die Band hielt stets eisern am wichtigsten Rezept für erfolgreiche Popbands fest: Melodie, Melodie, Melodie – im Happysound, aber stets abgemischt mit einer untergründigen Spur Melancholie. Insofern war Abba eine europäische Mixtur, viel eher als die Großgruppen der sechziger und frühen siebziger Jahre, die sich an den USA orientierten. Abendländische (Dis-)Harmonien in Noten, Kompositionen mit surrealistisch anmutenden, fast traumhaften Texten: Immer klingt es nach Abschied und Aufbruch zugleich, egal ob „The Winner Takes It All“ oder „Angeleyes“, Musik für alle Lebenslagen.
Die letzten Abba-Songs, dem Markt nachgereicht, als sich die Gruppe schon getrennt hatte, waren fast nur noch düstere Werke, „The Day Before You Came“, „Under Attack“ oder „Kassandra“. Zu eindeutig traurig, verlusttriefend – und deshalb auch nicht charterfolgreich.
Nach der Auflösung von Abba, so steht heute im Internet zu lesen, sollen viele Fans empfunden haben, als hätten sich ihre Eltern scheiden lassen. Einer meint, ihm sei damals gewesen, als wären sie bei einem Autounfall umgekommen und er hätte versäumt, sich von ihnen zu verabschieden. Bei den Älteren wurde der Verlust erst spät bemerkt. Einige Gruppen spielten Abba-Songs nach, aber es klang meist – ob nun von U 2, Erasure oder durch ein pakistanisches Duo – jämmerlich. Die Abba-4-CD-Box, vor fünf Jahren erschienen, wird erst heute nachgefragt – Abbas Kinder sparen sich wohl vom Munde ab, um wirklich alle Erinnerungen an ihre Eltern zu sammeln.
Der bärtige Ulvaeus macht seither Musicals („Chess“, „Kristina fran Duvemala“), promotet schwedische Volks- oder Filmmusik („Mio, mein Mio“); der blonde Andersson assistiert ihm wie immer. Die blonde Agnetha hat drei Solo-CDs produziert, mittelmäßig erfolgreich, und gibt darüber hinaus keine Interviews; Annafrid Lyngstad, die Dunkle, hat sich erst spät von der Scheidung von Benny Ulvaeus erholt, in der Schweiz in das Adelsgeschlecht derer zu Reuss und Plauen geheiratet, fördert zusammen mit Königin Silvia karitative Projekte und gibt hin und wieder in Schweden eine Solo-CD heraus.
Alle vier haben geschworen, nie mehr gemeinsam live aufzutreten. Das wenigstens haben sie mit den Beatles gemeinsam: Das Wissen, daß die guten Zeiten, Kindertage allesamt, nicht recyclet werden können.
Abba beim Essen, Abba beim Joggen, Abba beim Musikmachen – alles wohltemperiertAbba waren das musikalische Gemurmel gegen die immer unübersichtlicher werdende Welt
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