piwik no script img

Über den Nutzen des häßlichen Ostlers

■ Die wachsende Gewalt im Osten ist ein Hinweis auf die Verhältnisse in ganz Deutschland. Eine Entgegnung auf Christian Pfeiffer

Über die Thesen des Hannoveraner Kriminologen Christian Pfeiffer, daß rechtsradikale Gewalt eine Folge repressiver Erziehung sein kann, wie sie vor allem in der DDR üblich war, brauchte heute niemand mehr zu streiten. Seit etwa 100 Jahren ist mit der psychoanalytischen Forschung bekannt, daß frühe Beziehungsverhältnisse zwischen Eltern, Erziehern und Kind das spätere Leben des Erwachsenen entscheidend prägen. Und ein späterer Gewalttäter ist in seinen ersten Lebensjahren immer Opfer von Gewalt oder von Beziehungsdefiziten gewesen. Man darf sich dabei früh erfahrene Gewalt nicht nur in körperlichen Tätlichkeiten vorstellen, sondern muß auch alle Formen von seelischer Einengung, Kränkung, Demütigung, Abwertung und Ablehnung dazurechnen. Ohne eine solche seelische Verletztheit ist ein Mensch zu destruktiver Gewalt gar nicht in der Lage. Aber wann und in welcher Form Gewalt ausgeübt wird, das hängt von kulturellen, politischen, sozialen und situativen Einflüssen ab. Es müssen also eine primäre seelische Grundstörung als Ursache und sekundäre Einflüsse als Auslöser zusammenkommen.

Die Erregung, die durch Pfeiffers Thesen gerade jetzt ausgelöst wird, ist auch Symptom der deutsch-deutschen Vereinigungspathologie. Zum näheren Verständnis seien weitverbreitete Sozialisationsfolgen in Ost- und Westdeutschland kurz zusammengefaßt: Jedes Kind braucht für eine gesunde Entwicklung eine primär- narzißtische Bestätigung seiner Existenz. Jede Form der Erziehung auf bestimmte Normen und Erwartungen hin bedeutet eine Einschränkung in der primär-narzißtischen Befriedigung. Unter autoritären Verhältnissen geschieht diese Einengung vorwiegend repressiv und erzeugt Anpassungsdruck und Gehorsamszwang, deren negatives Erleben halbwegs neutralisiert wird, wenn später die Anpassungsleistung entsprechend honoriert wird. Der Untertan leidet (scheinbar) nicht mehr, wenn er erfolgreich dienen und konfliktfrei mitlaufen darf.

Unter marktwirtschaftlichen Bedingungen dagegen geschieht eine frühe charakterliche Verbiegung durch den Leistungsdruck, um sich im Existenzkampf behaupten zu können und wenn möglich stärker und cleverer als andere zu sein. Der derart „produzierte“ Obertan leidet (scheinbar) nicht mehr, solange er mit seiner einseitigen Anstrengung erfolgreich ist und mit gutem Geld entschädigt wird und sich damit durch Konsum und Zerstreuung sekundär narzißtisch befriedigen kann. Und im deutschen Vereinigungsprozeß haben sich ostdeutsche Anpassungs- und Unterwerfungsbereitschaft mit westdeutscher Dominanz- und Machermentalität vielfach wechselseitig verstärkt.

Egal auf welchem Erziehungsweg – Ost oder West –, es bleibt ein psychosozialer Mangel in der primären Bestätigung, und es wird eine entfremdende, einseitige Entwicklung in Gang gesetzt. Dies verursacht immer Empörung, Wut und Haß, was sich zu einem Aggressionspotential innerseelisch aufstauen kann, wenn der Protest nicht rechtzeitig und umfassend zum Ausdruck gebracht werden darf. Aber Haß gegen Eltern und Erzieher ist in unserer Gesellschaft tabuisiert. So bemüht sich Christian Pfeiffer auch, die Eltern und Krippenerzieherinnen der DDR zu exkulpieren, da sie sich ja im DDR-System gar nicht anders hätten verhalten können. Hier teile ich seine Meinung nicht. Ich sehe das Problem nicht so sehr im „System“, letztlich also bei den politisch Mächtigen, sondern immer auch beim einzelnen. Der äußere Spielraum ist meist – auch in einer Diktatur – wesentlich größer als ihr innerer Freiraum. Autoritäre Eltern sind Opfer ihrer eigenen Fehlentwicklung und dürfen sich nicht „auf die Verhältnisse“ herausreden, wenn sie zum Täter an ihren Kindern werden.

Ein Teil des Hasses, der jetzt Christian Pfeiffer hier in Ostdeutschland entgegenschlägt, ist mir ausgesprochen peinlich. Dann nämlich, wenn ein vorbereiteter Protest abgelesen und durch ideologisierte Abwehr das kritische Reflektieren über die eigene Lebensgeschichte vermieden werden soll. Damit wird nur bewiesen, wie recht Pfeiffer haben muß, der nun als der „Fremde“ gehetzt wird, nur weil viele Ostdeutsche die eigenen Defizite in ihrer Kindheit und die Fehler und das Versagen als Erwachsene und Eltern nicht leidvoll akzeptieren wollen.

Im Streit zwischen dem Westdeutschen Christian Pfeiffer und vielen Ostdeutschen kulminiert ein typisches Problem der deutsch- deutschen Vereinigung: Die Mehrheit der Ostdeutschen erfährt neue Kränkung und Demütigung – weil nur der westliche Maßstab gilt. Damit bekommt der verborgene frühe Haß wieder Auftrieb, und in den Westdeutschen werden die neuen Vollstrecker der Unterwerfung erlebt. Pfeiffer bekommt von den gebildeteren Ostdeutschen ab, was die weniger Differenzierten den Ausländern überhelfen, was aber vor allem durch westdeutsche Politiker, Manager und „Entwicklungshelfer“ als narzißtische Kränkung ausgelöst wurde.

Das Erleben des deutschen Vereinigungsprozesses hat bei vielen Ostdeutschen wieder die sehr frühen seelischen Erfahrungen von Abwertung und Nichterwünschtsein reaktiviert. Und wer das nicht fühlen kann oder darf, der muß ausagieren. Warum die einen im psychosozialen Mangel und mit Gefühlsstau eher hohen Blutdruck entwickeln und andere zum Baseballschläger greifen, weshalb die einen Bomben werfen und andere Ausländer jagen, weshalb die einen sich in Arbeitswut und andere mit Alkohol betäuben, das kann immer nur im Einzelfall geklärt werden, wobei Bildungsgrad, sozialer Status und Werteorientierung wesentliche Bedeutung haben.

Die Erregung gegen Pfeiffer hat also auch sehr viel damit zu tun, daß wieder mal ein Westdeutscher den Ostdeutschen einen Spiegel vorhält, ohne dabei die eigenen Verzerrungen erkennbar zu machen. Da sollten wir Ostdeutschen wirklich nicht vergessen, was den meisten von uns geschehen ist, wobei aber Zeit und Raum, Schutz und Verständnis gebraucht würden, um Verdrängtes und Verleugnetes hervorholen zu können. Dafür haben wir allerdings kaum gesorgt, und dies wurde uns von den meisten Westdeutschen bisher auch nicht gewährt, vielleicht, weil sie den „häßlichen Ostdeutschen“ brauchen, um die eigenen Defizite und Verbiegungen ihrer Lebensart nicht erkennen zu müssen.

Rechtsradikale Gewalt ist keine Erfindung des Ostens. Dem Problem destruktiver Gewalt werden wir uns erst dann wirklich nähern können, wenn wir nicht mehr auf andere zeigen, sondern jeder bei sich beginnt, eigene Gewalttendenzen zu erkennen. Wir können dann auch nicht mehr übersehen, daß eine entfesselte Leistungsgesellschaft strukturelle Gewalt ausübt, daß die deutsche Vereinigung von politischer und wirtschaftlicher Gewalt geprägt wird. Und daß – um ein jüngstes Beispiel zu bringen – der Nato-Einsatz in Jugoslawien niemals nur aus humanitären Gründen geschieht, sondern auch aus tieferen gewaltlüsternen Quellen gespeist wird. Jedem kann dabei auffallen, wie rationale Gründe zu irrationalen Ergebnissen führen, wie angebliche Hilfe furchtbare Zerstörungen bewirkt, wie plötzlich gestandene, auf Pluralismus bedachte Demokraten nur noch in Gut und Böse teilen und dabei unschuldige Opfer als unvermeidbar akzeptieren.

Wir müssen begreifen, daß alle noch so guten Begründungen immer nur einen Teil des Ganzen ausmachen und darunter immer noch verborgene und meist streng tabuisierte seelische Bedürfnisse und Motive, Defizite und Konflikte zur Handlung drängen. Wir tun also gut daran, wachsende Gewalt in der Bevölkerung als ein Symptom einer umfassenderen gesellschaftlichen Krise zu begreifen. In Ostdeutschland kommen zu den Erziehungsfolgen und dem Wegfall der früheren Kontroll- und Anpassungsmechanismen die geringe Wirksamkeit der neuen westlichen Kompensationsmöglichkeiten in einer Gesellschaft hinzu, die auf struktureller Gewalt basiert. Damit geben die Daten wachsender Gewalt in den neuen Bundesländern Hinweise auf die Verhältnisse in ganz Deutschland und könnten uns vorwarnen auf die drohende Gefahr, wenn der Wohlstand, der den meisten Bürgern in der alten Bundesrepublik selbstverständlich geworden war, immer unsicherer wird. Hans-Joachim Maaz

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen