: Mit ABM gegen den Orchestertod
Andernorts werden Theater geschlossen, doch der Bezirk Marzahn begibt sich mit einem neuen Sinfonieorchester auf den Weg zum vierten Berliner Opernhaus im Biesdorfer „Theater am Park“ ■ Von Ralph Bollmann
Orchestersterben? Theatertod? Begriffe, an die sich die Kulturschaffenden im benachbarten Brandenburg längst gewöhnen mußten, sind in H.M.H. unbekannt. Mit seinen 440.000 Einwohnern war H.M.H. lange die größte deutsche Stadt ohne eigenes Theater. Doch vergangenes Jahr erhielt die Metropole ein eigenes Schauspielensemble, und am Freitag gibt das „H.M.H. Sinfonieorchester“ sein erstes Konzert. Und wenn alles läuft wie geplant, werden auch Oper und Ballett nicht mehr lange auf sich warten lassen. Das Mehrspartenhaus wäre dann komplett, ein echtes Stadt- und Staatstheater.
Spinnerei? Mitnichten. Intendant, pardon: „Gesamtleiter“ Lutz Daberkow steht voll und ganz auf dem Boden der Tatsachen, schließlich hat der heute 53jährige zu DDR-Zeiten an vergleichbaren Häusern bereits Führungsposten bekleidet: als Chefdramaturg und Regisseur in Eisenach und Meiningen, schließlich 1989/90 als Intendant in Halberstadt.
Hochstapelei ist allein der Name des „H.M.H. Theaters“: Hinter der Abkürzung verbergen sich Hellersdorf, Marzahn und Hohenschönhausen – obwohl bislang nur Marzahn das Projekt trägt. Pünktlich zum 20jährigen Jubiläum leistet sich der Bezirk jetzt sein eigenes Sinfonieorchester.
Das Geheimnis des Marzahner Kulturwunders heißt „Strukturanpassungsmaßnahme“. Arbeitsamt und Senat kommen für das Gehalt der Musiker auf, die nach dem gängigen Orchestertarif bezahlt werden. Der Bezirk muß dann nur noch für Sachkosten wie Noten, Heizung oder Programmhefte aufkommen. Dafür müssen die Instrumentalisten nicht nur beim Vorspielen überzeugen, sondern zuvor auch Arbeitslosengeld oder Arbeitslosenhilfe bezogen haben.
Daberkow und seine Mitstreiter schlagen das westdeutsche System der verschiedenen Fördertöpfe mit ihren eigenen Waffen: Während die zumindest quantitativ üppige Theaterlandschaft der neuen Bundesländer, von der DDR 40 Jahre lang konserviert, durch Schließungen und Fusionen aufgrund klammer Kulturtöpfe schrumpft und schrumpft, blüht vor dem Hintergrund der maroden Wirtschaft der zweite Arbeitsmarkt.
Mit ihrem Projekt lassen die Marzahner Künstler jene Welt der DDR-Provinzensembles wieder auferstehen, aus der die meisten von ihnen einst vertrieben wurden. Sie spielten in Rudolstadt oder Sondershausen, in Brandenburg oder Eberswalde, am Metropol-Theater oder auch im abgewickelten Rundfunkorchester Berlin.
Als Hauptspielstätte ist das Biesdorfer „Theater am Park“ vorgesehen, in dem einst der Männerchor der Nationalen Volksarmee probte. Das Haus verfügt zwar über 332 Sitzplätze und einen Orchestergraben für Opernaufführungen, zur Zeit läßt die Baupolizei aber nur 100 Besucher hinein. Eine Sanierung würde einen „zweistelligen Millionenbetrag“ verschlingen, so Daberkow. Daneben sollen die Musiker auch im Freizeitforum Marzahn auftreten, Gastspiele außerhalb der Bezirksgrenzen sind im Lichtenberger Theater Karlshorst und im Amon-Hotel Hohenschönhausen geplant.
Die „Strukturanpassungsmaßnahme“ ist vorerst für ein Jahr bewilligt, kann aber nach Daberkows Angaben auf bis zu fünf Jahre verlängert werden. „Und dann gibt's sicher auch eine Möglichkeit“, sagte der Intendant gestern mit einem Seitenblick auf den Marzahner Kulturstadtrat Wolfgang Kieke. An mangelndem Publikumsinteresse, da waren sich beide einig, werde das Projekt nicht scheitern. Schließlich gebe es in Marzahn „viele kulturinteressierte Menschen“, und die Bewohner hätten einen „sehr hohen Bildungsstand“.
Gründungskonzert mit Werken von Schubert, Bizet und Mozart am Freitag um 19.30 Uhr im Freizeitforum Marzahn.
Die Marzahner Künstler lassen die Welt der DDR-Provinzensembles auferstehen, aus denen sie vertrieben wurden
40.000 mal Danke!
40.000 Menschen beteiligen sich bei taz zahl ich – weil unabhängiger, kritischer Journalismus in diesen Zeiten gebraucht wird. Weil es die taz braucht. Dafür möchten wir uns herzlich bedanken! Ihre Solidarität sorgt dafür, dass taz.de für alle frei zugänglich bleibt. Denn wir verstehen Journalismus nicht nur als Ware, sondern als öffentliches Gut. Was uns besonders macht? Sie, unsere Leser*innen. Sie wissen: Zahlen muss niemand, aber guter Journalismus hat seinen Preis. Und immer mehr machen mit und entscheiden sich für eine freiwillige Unterstützung der taz! Dieser Schub trägt uns gemeinsam in die Zukunft. Wir suchen auch weiterhin Unterstützung: suchen wir auch weiterhin Ihre Unterstützung. Setzen auch Sie jetzt ein Zeichen für kritischen Journalismus – schon mit 5 Euro im Monat! Jetzt unterstützen