Irrtümer mit Jubelschreien

■ Marcks-Haus zeigt Zeichnungen der „Irren(den)“ Unica Zürn

Wer sich jemals die Rhizome (Wurzelgeflechte), jene Lieblingsmetapher von Guattari/Deleuze für die kausalitätssprengende Allverflochtenheit der Welt, vorgestellt hat, der weiß in etwa wie die meist schwarzweißen, meist kleinen Zeichnungen von Unica Zürn übers Papier kriechen. In einem ihrer kurzen Prosabrocken, der ihren (wieder nicht) „letzten“ Verwirrtheitsanfall dokumentiert, erzählt die Schriftstellerin und Malerin von einer ihrer teils geliebten, teils gehaßten Realitätsumdeutungen und -erweiterungen: Da verwandeln sich harmlose Wolken in Krokodile, in Männchen ... Ihre Bilder scheinen diesen Wolken nachzueifern in der Kunst der Metamorphose. Kleine Module – Schuppen, Flammen, Zellkerne, Muskelfasern, Kringel – wuchern zu seltsamen, schwebenden, körperlosen Wesen zusammen, die auf Füße und dazugehörigen festen Bodenkontakt nur allzugerne verzichten. Frei sind sie auch von der strengen Gliederung des menschlichen Körpers in Kopf, Leib, Gliedmaßen. Wie Bernard Schultzes „Migofs“ (auch sie wuselten in den 50ern und 60ern) verzweigen sie sich ins Mikroskopische hinein, als seien sie ausgewiesene Kenner der Chaostheorie und des Apfelmännchens.

Unica Zürn (1916-1970) ist die Sylvia Plath der Malerei. 1960 wurde sie das erste Mal in eine Nervenklinik eingewiesen. Am 19. 10. 1970 stürzte sie sich von einem Balkon. Anfang der 80er Jahre stürzten sich dafür die StudentInnen auf sie. Daß Zürn seit 1953 eine komplizierte Zick-Zack-Beziehung pflegte (nach dem „U2“-Motto „with or without her, I can't live“) zum Künstler Hans Bellmer, welcher in Vorwegnahme von Cindy Sherman gerne mal Schaufensterpuppen tranchierte um sie zu lebensuntüchtigen Monstern zusammensetzte, erwies sich für eine feministische, theweleitsche Auswertung von Zürns Biographie natürlich als hilfreich. Und tatsächlich taucht in einer fantastischen Prosasequenz neben einem „rot lackierten Scorpion“ und einem umarmenden Adler eine „Puppe aus Wachs, durchstochen mit schwarzen Nadeln“ auf. Arie Hartog vom Marckshaus hält die psychologische Eigenwilligkeit der Unica Zürn zwar nicht für willentlich aber doch für eigen, und will sie nicht nur vom Lebensabschnittspartner abgeleitet sehen.

Der etwa 130seitige Prosatext „Der Mann im Jasmin“ gibt ihm Recht. Er erzählt von einer „ersten Vision“ im Alter von sechs Jahren. Nachdem Zürn einmal durch die Fleischlichkeit der züngelnden Mutter kräftig angeekelt wurde, fantasierte sie von einem züngelunfähigen Mann auf einem Stuhl in einem Jasmingarten. „Unendlicher Trost. Er ist gelähmt. Welch ein Glück ... Diese stille Gegenwart erteilt ihr zwei Belehrungen, welche sie nicht mehr vergißt. Distanz. Passivität. Über jede Schulter, an die sie sich in den kommenden Jahren lehnt, blickt sie auf den Mann im Jasmin. Sie bleibt ihrer Kinderhochzeit treu.“ Andere Männer, die hinter dem Jasminmann nach Möglichkeit verschwinden sollen, mag es einige gegeben habe: Vielleicht der inzestuös geliebte Vater, der sich von der Mutter scheiden ließ, der Stiefvater, der bei den Nazis einen peinlich hohen Rang erklomm, oder der Bruder, der im Krieg fiel.

In ihren oft erotischen Prosatexten, die noch viel mehr als einst Goethe „Dichtung und Wahrheit“ schwerentwirrbar ineinanderdrechseln, beschreibt Zürn gerne die Nähe von Glück und Unzufriedenheit, Euphorie und Kaputtheit: „Den größte Teil meines Lebens habe ich schlafend zugebracht, den nächst größten Teil mit dem Warten auf ein Wunder ... im Vertrauen auf die kommende Beseligung ... Meine Schlüsselzahl – die 99. Wenn ich irrsinnig werde, werde ich es an der 99.“ Und: „Irrtümer fingen an. Jeder mit einem Jubelschrei ... und endeten im Hospital.“ Das Manische und das Depressive fließen merkwürdig ineinander.

Krise bedeutet der auktorialen Erzählerin auch Beseelung: Eine x-beliebige Parfumflasche, eine Sequenz aus einem Actionfilm, alles wird zum Zeichen. Ungeheuerlich aber erscheinen der Ausgelieferten die Ärzte in der Psychiatrie. Sie erzählen gruselige Dinge von herzlos gewordenen Augen oder scheinen die Gefühle der Patienten fremdzusteuern, allein durch die Kraft ihres Willens. Wieder eine zürnverwandte Erzählerin: „In normalen Zeiten fragt sie sich ernsthaft, ob Psychiater irgendwo in einer Klinik sich an Patienten sexuell vergangen haben.“ Denn: „Der Mensch kann sich nichts ausdenken, was nicht in irgendeiner Form einmal verwirklicht wird ...“ Allzuviel ausgedacht haben sich die Autoren des Katalogs. Hochtheoretisches Geschwurbel von Lacan und Kristeva wird dem Leser um die Ohren geschleudert. Über Biografie und Literatur der Zürn erfährt er nur staubkornweise. Umso empfehlenswerter: die sechbändige Ausgabe der Anagramm-Gedichte, semiautobriographischer Texte und Brotarbeiten für Zeitungen.

B.Kern

Bis zum 30. Mai im Gerhard Marcks-Haus

Foto: Radierung aus dem Nachlaß der Künstlerin. Die Abbildung ist dem Ausstellungskatalog entnommen