: Ist Zwangsarbeit Arbeit oder nicht?
■ In Pilotverfahren muß erstmals ein Arbeitsgericht Zuständigkeit klären – Rüstungskonzern Diehl: Es war kein Arbeitsverhältnis
Nürnberg (taz) – Hanna Omeljaniwa Derhaljuk verklagt den Nürnberger Rüstungskonzern Diehl auf Entschädigung für die von 1942 bis Kriegsende in den Fabrikhallen der Waffenschmiede geleistete Zwangsarbeit. Die Ukrainerin versucht ihren Anspruch – und das ist in der bundesdeutschen Justizgeschichte bislang einmalig – vor einem Arbeitsgericht einzuklagen. 57 ähnlich gelagerte Klagen sind eingereicht, und Rechtsanwalt Peter-Jochen Kruse, der die Ukrainerin vertritt, hat das Mandat von insgesamt 750.000 Ukrainern und Weißrussen, die als Verschleppte oder Kriegsgefangene bei Siemens, VW, BMW, Hoechst, Opel oder eben bei Diehl zum Arbeitseinsatz gezwungen worden waren.
Der Nürnberger Konzern will diese Prozeßserie, bei der es um Einzelforderungen von 15.000 bis 30.000 Mark geht, von Anfang an stoppen. Seine Justitiare bestreiten die Zuständigkeit des Arbeitsgerichts. Zur ersten Anhörung vor dem Nürnberger Arbeitsgericht war die Ukrainerin Derhaljuk, die 1942 als 16jährige aus ihrem Dorf Tychyi Chutir nach Deutschland verschleppt worden war, nicht erschienen. Hanna Derhaljuk kann von ihren 35 Mark Rente, die sie im Monat erhält, die Reise nicht bezahlen. Ob ihr Prozeßkostenbeihilfe gewährt wird, muß das Arbeitsgericht entscheiden, allerdings erst dann, wenn es sich für zuständig betrachtet.
Zuständig sind Arbeitsgerichte für Streitfälle, die sich aus Arbeitsverhältnissen ergeben. Nach Ansicht des Diehl-Konzerns ist Zwangsarbeit jedoch ein „Beschäftigungsverhältnis ganz eigener Art“. Es fehle, so Firmenjustitiar Andreas Waggershauser, das beiderseitige Einverständnis, also die freie Willensbekundung zum Abschluß des Arbeitsverhältnisses. Diehl weiß dabei zahlreiche Gerichte auf seiner Seite. So hatte das Oberlandesgericht Stuttgart die Tatsache der Inhaftierung bei der SS als Argument gegen die Existenz eines Arbeitsverhältnisses angesehen. Für das Landgericht Bremen beruht Zwangsarbeit auf einem rechtswidrigen hoheitlichen Eingriff, und das Landgericht Berlin sprach angesichts der Zahlungen der Firmen an die SS für die Überstellung der Zwangsarbeiter gar von einem Leiharbeitsverhältnis.
Darüber hinaus streitet Diehl ab, daß die 58 ersten Kläger überhaupt bei dem Rüstungskonzern gearbeitet haben. „Das werden wir nachweisen“, betont dagegen Klägervertreter Kruse aus Maintal-Dörnigheim. Er will aus der Ukraine die Arbeitsbücher und Sozialversicherungsnachweise der Zwangsarbeiter holen. Kruse argumentiert, daß zwar das Eingehen des Arbeitsverhältnisses nicht freiwillig erfolgt sei, es jedoch andere Kriterien gebe, nach denen Zwangsarbeit durchaus als Arbeit im Sinne des deutschen Arbeitsgerichtsgesetzes betrachtet werden könne. So waren die Firmen den Zwangsarbeitern gegenüber weisungsbefugt, sie konnten sie wieder zurückschicken und ernteten zudem „die Früchte von deren Arbeitsleistung“.
Sogar dieses stritt Diehl-Vertreter Waggershauser ab und verstieg sich zu der Behauptung, seine Firma habe „aus dem Einsatz der Fremdarbeiter aufgrund der Preisgestaltung der Aufträge und der Abgabenpflicht der Firmen keinerlei vermögenswerten Vorteil“ gezogen. Für Diehl ist die Zwangsarbeit ein „hoheitlicher Einsatz“, also die Erfüllung einer staatlichen Aufgabe gewesen; deswegen sei die Firma auch die falsche Adresse für irgendwelche Entschädigungsklagen.
Bei Diehl, das im letzten Jahr auf massiven öffentlichen Druck hin einen Hilfsfonds für jüdische Zwangsarbeiter eingerichtet hat, setzt man auf den Entschädigungsfonds, den Kanzleramtsminister Bodo Hombach auf den Weg bringen will. Anwalt Kruse will nicht auf ein Ergebnis der Verhandlungen warten. „Bis der versprochene Fonds kommt, ist es für viele meiner Mandanten, die alle über 70 Jahre alt sind, zu spät.“
Kruse hat zweieinhalb Jahre mit dem Bund der Deutschen Industrie (BDI) und verschiedenen Konzernen verhandelt. Während der BDI, BMW, Hoechst und Daimler-Benz bereit gewesen wären, eine Entschädigung in Höhe von 600 Mark pro Monat Zwangsarbeit zu bezahlen, hätten Firmen wie Dunlop und gerade Diehl dies strikt abgelehnt. Kruse will mit seinen vorerst insgesamt knapp 600 eingereichten Klagen „aus dem Gerichtssaal heraus einen Weg zu einem Runden Tisch finden, um mit Arbeitgebern, Industrieverbänden, Gewerkschaften, Politikern und Betroffenen dieses beschämende Kapitel deutscher Geschichte in fairer und honoriger Weise zum Abschluß zu bringen“. Bernd Siegler
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