Die Rückkehr der Grauen Wölfe

Die türkischen Parlamentswahlen brachten einen Sieg des Linksnationalisten Bülent Ecevit und einen Riesencoup für die rechtsradikale Nationale Bewegung  ■ Aus Istanbul Jürgen Gottschlich

Zuerst glaubten alle an einen Computerfehler. Erstmals bei Wahlen in der Türkei präsentierte der Nachrichtensender ntv an diesem Sonntag Hochrechnungen nach europäischem Muster. Und was sich da auf dem Bildschirm abzeichnete, war einfach unglaublich: 18 Prozent für die rechtsradikale Partei der Nationalen Bewegung (MHP). „Da haben sie wohl nur ein Dorf in Anatolien ausgezählt“, hoffte ein entsetzter Altlinker. „Die können mit den Computerprogrammen noch nicht umgehen“, meinte ein anderer. Doch je später der Abend wurde um so länger wurden die Gesichter. Kopfschütteln, wohin man sah.

Erstmals seit dem Militärputsch im September 1980 ist die Partei der Grauen Wölfe wieder im Parlament vertreten. Daß die MHP den Sprung über die Zehnprozenthürde schaffen würde, hatten zwar viele befürchtet, daß die Ultranationalisten am Ende aber die zweitstärkste Partei werden würden, versetzte das ganze Land in Schockzustand. Niemand hatte damit gerechnet, am wenigsten die MHP selbst.

„Über mögliche Koalitionen kann man jetzt noch nichts sagen“, wehrte der Sieger der Wahl, Ministerpräsident Bülent Ecevit, gestern morgen ab. Klar ist jedoch, daß es ganz schwierig wird, nun eine Regierung zusammen zu bekommen. Evecits Demokratische Linkspartei (DSP) schaffte rund 22 Prozent und bekommt wahrscheinlich 135 Abgeordnetensitze. Die MHP wird es mit ihren 18 Prozent auf 128 Mandate bringen und die drittstärkste islamische Tugendpartei (FP) auf rund 105 Sitze. Für eine Mehrheit im Parlament sind 276 Stimmen notwendig.

Die großen Verlierer der Wahl sind die bürgerlichen Rechtsparteien, die Mutterlandspartei (Anap) und die Partei des Rechten Weges (DYP). Mesut Yilmaz, Vorsitzender der Mutterlandspartei, und Tansu Çiller, die Chefin der Partei des Rechten Weges, sind die Totengräber der bürgerlichen Rechten. Ihr jahrelange persönliche Dauerfehde ohne jede politische Substanz, endlose Korruptionsskandale und eine völlig prinzipienlose Trickserei haben dazu geführt, daß beide Parteien von jeweils knapp 20 Prozent auf 12 beziehungsweise 13 Prozent abgestürzt sind.

Bevor diese Parteien sich an der Macht wieder beteiligen, bräuchten sie eine komplette Runderneuerung und eine neue Führung. Ganz rausgefallen ist die traditionsreichste türkische Partei überhaupt, die sozialdemokratische CHP. Die Partei des Republikgründers Mustafa Kemal (Atatürk), unter ebenfalls katastrophaler Führung von Deniz Baykal, schaffte nur noch knapp 9 Prozent.

Bis Sonntag morgen hatten sämtliche Prognostiker noch ein Kopf-an-Kopf-Rennen zwischen Ecevit und der Tugendpartei vorausgesagt. Das stimmte jedoch allenfalls für den Großraum Istanbul. Auf das ganze Land bezogen, haben sich die führenden Medien total blamiert. Die Islamisten, bei den Wahlen 1995 die Überraschungssieger mit 21 Prozent, kamen landesweit diesmal nur noch auf 16 Prozent und konnten ihre starke Position lediglich bei den gleichzeitig stattgefundenen Bürgermeisterwahlen halten. Aus den Verlusten der Islamisten und der beiden bürgerlichen Rechtsparteien speist sich der Erfolg der Rechtsradikalen.

Außer dem Frust über die Mißwirtschaft von Yilmaz und Çiller sind nach Einschätzung der hiesigen Analytiker zwei weitere Faktoren für den MHP-Erfolg ausschlaggebend: Die Stimmung nach der Gefangennahme des PKK- Chefs Abdullah Öcalan und der Krieg im Kosovo. Beides hat den Ultranationalisten einen zusätzlichen Schub gegeben, der dazu geführt hat, daß sie ihr normales Potential weit überbieten konnten.

Die politische Landkarte der Türkei ist nun dreigeteilt. Der entwickelte und reiche Westen des Landes hat eindeutig Ecevit gewählt. Das bürgerliche Zentrum ist damit zur DSP gerückt. Mittelanatolien, die anatolische Hochebene, Bauern und Kleinbürgertum der Provinz haben überwiegend MHP gewählt und der Südosten hat für die prokurdische Hadep gestimmt. Da die Hadep landesweit aber nur 4 Prozent bekommen hat, fallen ihre Stimmen für die Zusammensetzung des nationalen Parlaments weg. Allerdings hat die Hadep die Bürgermeisterposten in Diyarbakir, Hakkari und allen anderen größeren Städten im überwiegend kurdisch besiedelten Teil des Landes gewonnen.

Auf die Türkei kommen jetzt erneut schwierige Zeiten zu. Für die vom Militär und der Wirtschaft favorisierte Koalition zwischen Ecevit und Yilmaz reicht es nicht, eine Dreierkoalition zusammen mit Tansu Çiller ist schwer vorstellbar. Die MHP gleich an der Regierung zu beteiligen, verbietet zunächst die politische Schamgrenze – allerdings weiß im Moment niemand genau, wo die aufhört. Dazu trägt auch bei, daß die MHP nach der langen parlamentarischen Absenz schwer einzuschätzen ist. Seit ihre Überfigur Alparslan Türkeș 1996 starb, gab es heftige Diadochenkämpfe mit anschließender Spaltung. Der neue MHP Chef Devlet Bahceli versucht nun, seine Truppe mehr in die politische Mitte zu steuern und das gewaltätige Image der Grauen Wölfe abzumildern. Während des Wahlkampfs, der zentral gesteuert wurde, hielt er seine Militanten zurück. Gegenüber der Zeitung Sabah sagte er: „Wir haben unsere Linie aus den 70er Jahren nicht geändert, aber wir sind heute weniger aggressiv.“ Kommentar Seite 13