: Gegen die leichtfertigen Parallelen
■ Während der Eröffnung des Reichstages demonstrierten ehemalige KZ-Häftlinge gegen den Krieg auf dem Balkan. Die angestellten Vergleiche zwischen dem Völkermord im Kosovo und dem in der Nazizeit erschüttern sie
Das Bläserensemble auf den Stufen des Reichstagsgebäudes hatte gerade zur Eröffnung des neuen Plenarbereichs eine Fanfare intoniert, da platze Kurt Goldstein der Kragen. Weil man ihn und eine Gruppe ehemaliger KZ-Häftlinge aus Auschwitz und Buchenwald sowie Sachsenhausen nicht unmittelbar vor dem Reichstag hatte demonstrieren lassen, fühlte er sich „abgedrängt – wie so oft“. Hinter den Absperrgittern nahe des Brandenburger Tores mußten der Vizepräsident des internationalen Auschwitzkomitees und rund 15 Mitglieder der Vereinigung der Verfolgten des Naziregimes (VVN) in Lageruniformen ihre Transparente gegen den Wind stemmen. Die Losungen „19. April 1945 Buchenwaldschwur. Nie wieder Faschismus, nie wieder Krieg“ oder „Für eine Entschädigung der NS-Zwangsarbeiter“ blieben den Bundestagsabgeordneten verborgen.
Mehr noch als die Parallelität des Datums vor 54 Jahren erregte den 85jährigen Spanienkämpfer Goldstein, daß der Deutsche Bundestag „in Kriegszeiten“ sein neues Domizil in Berlin feierlich eröffnete. In einem offenen Brief forderten er sowie die einstigen KZ-Häftlinge den Bundestag auf, ein sofortiges Ende der Kampfhandlungen in Jugoslawien herbeizuführen. „Anstelle einer Welt des Friedens und der Freiheit“ zu schaffen, „sind wir bestürzt über die kriegerischen Ereignisse auf dem Balkan und darüber, daß auch von deutschem Boden aus Krieg geführt wird“. Die Bomben der Nato hätten die Gewalt nicht beendet, sondern die „Gewaltspirale nur gesteigert“. Um wieder an den Verhandlungstisch zurückkehren zu können, müsse die derzeit „mißachtete“ Autorität der UNO wiederhergestellt werden.
In der Erklärung werden die Parlamentarier aufgefordert, sofort nach politischen statt nach miliärischen Lösungen des Konflikts zu suchen. Zugleich verurteilte die VVN die „Unterdrückung nationaler Minderheiten, Vertreibungen und ethnische Säuberungen“ im Kosovo durch die jugoslawische Armee. „Der Terror muß beendet werden.“
Scharf kritisierten Goldstein und Alfred Hausser (VVN), die Haltung von Bundesaußenminister Joschka Fischer und Bundestagspräsident Wolfang Thierse, der gestern in seiner Rede zur Eröffnung des Reichstags noch einmal die Luftangeriffe der Nato verteidigt hatte. Man müsse sich vor Augen halten, polterten die Demonstranten, daß Thierse damit weiter Angriffe gegen ein Volk unterstütze, das im Zweiten Weltkrieg gegen Hitlerdeutschland gekämpft habe.
Daß im Kosovo durch dier SerbenVölkermord geschehe und ein neuer Faschismus aufziehe, wie Fischer jüngst im Bundestag erklärt hatte, brachte Goldstein ebenfalls in Harnisch. Nach seiner Ansicht bildeten die Aktionen der jugoslawischen Armee gegen die Kosovo-Albaner „eine Vertreibung“ der Bevölkerung. Aussagen von Fischer, der „diese Vertreibungen“ mit dem Völkermord der Nazis auf eine Stufe stellte, seien „an Ungeheuerlichkeit nicht mehr zu überbieten“. Der Außenminister verharmlose so die historisch einmalige Bedeutung des Holocaust. Zugleich verweigere er sich mit solcherlei Aussagen den politischen Tatsachen im Kosovo. Der Frage, warum sich gerade Überlebende des Naziregimes mit ihren Attacken gegen die Haltung der Bundesregierung, Verbrechen gegen die Menschlichkeit zu geißeln, so vehement zur Wehr setzen, wich Goldstein aus. Statt dessen erinnerte er daran, daß Sprachregelungen wie die „Rede vom Genozid auf dem Balkan“, die derzeit „Politiker und Jounalisten gebrauchen, nur mehr zur Verharmlosung der Naziverbrechen beitragen würden. Genozid sei etwas anderes“, sagte Goldstein. Und als wollte er seiner Aussage bekräftigen, krempelte er seinen rechten Hemdsärmel hoch. Zum Vorschein kam seine Häftlingsnummer. Rolf Lautenschläger
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