: Zeitenwende in der Politik
Eröffnungssitzung des Deutschen Bundestages in Berlin: Gestern übergab der Architekt Sir Norman Foster den Schlüssel des Reichstagsgebäudes an den Hausherrn, Bundestagspräsident Wolfgang Thierse ■ Aus Berlin Annette Rollmann
Kurz trat Bundeskanzler Gerhard Schröder wenige Schritte vor, rückte das Mikrofon in die richtige Höhe und überließ es dann wieder dem Geschäftsführer der Bundesbaugesellschaft Winfried Rüttler. Die Spitze der deutschen Politik, die sich um 11 Uhr vor dem Portal des Reichstages zur Schlüsselübergabe versammelt hatte, genoß diesen Moment. Und Schröder hatte mit dieser Geste als oberster Techniker der Republik die tragende Feierlichkeit des Moments befreiend aufgehoben. Nun konnte der Bauherr mit seiner Rede beginnen und sagte: „Die Türen sind geöffnet.“
Gestern wurde der umgebaute Reichstag in Berlin dem Deutschen Bundestag übergeben. Nach 66 Jahren zieht hier wieder ein deutsches Parlament ein. Die morgendliche Feierstunde unter blauem Himmel, zu der unter anderem die Feuerwerksmusik von Händel ertönte, machte die Zeitenwende des Parlaments- und Regierungsumzuges von Bonn nach Berlin augenfällig. Hier auf den steinernen Stufen des ursprünglich von dem Architekten Wallot stammenden Baus präsentierten sich nicht nur viele neue Mitglieder des Parlaments und der neuen Bundesregierung, sondern es erschien noch einmal die „alte“ Bundesrepublik: diejenigen, die den Krieg noch erlebt und während der Teilung Deutschlands das Selbstverständnis von Zurückgenommenheit und Bescheidenheit der Bundesrepublik geprägt hatten.
Neben der ehemaligen Bundestagspräsidentin Annemarie Renger (SPD) waren viele frühere Minister erschienen und natürlich Helmut Kohl selbst, der Altbundeskanzler, der sichtlich bewegt in deren Mitte stand. Er ist derjenige, der als Architekt der deutschen Wiedervereinigung gilt und bei den Debatten um den Umzug von Bonn nach Berlin immer für Berlin als Regierungs- und Parlamentssitz gekämpft hatte.
„Das ist ein Epochenwechsel“, hatte der ehemalige Bundestagsvizepräsident und jetzige Vorsitzende des Auswärtigen Ausschusses, Hans-Ulrich Klose (SPD), noch kurz zuvor in der lichtdurchfluteten Lobby des neuen Parlaments gesagt. „Ich fürchte, wir ziehen wirklich von der Bonner in die Berliner Republik.“ Es gehe nicht nur um den Regierungswechsel vom Herbst, sondern um einen Generationenwechsel. „Die, die jetzt Ämter innehaben, wollen normal sein, und wir müssen auch normal, wie andere Demokratien auch, agieren. Aber daran muß ich mich erst gewöhnen“, sagte der 62jährige nachdenklich. Womöglich wurde mit dem gestrigen Ereignis die deutsche Nachkriegsgeschichte endgültig zu einer Epoche der Vergangenheit. SPD-Fraktionsvize Ingrid Matthäus-Maier formulierte es anders: „Der heutige Tag ist das Symbol für das wiedervereinigte Deutschland.“
Bundestagspräsident Thierse sorgte zunächst für Heiterkeit bei den Abgeordneten. Nach seinem Einzug in das Parlament, das ihn stehend empfangen hatte, setzte er sich erst, wie im Reflex, hin, um dann einen kurzen Moment später, die Würde des Augenblicks erkennend, wieder aufzuspringen. In seiner Rede ging es um die Gebrochenheit deutscher Geschichte und Gegenwart und den derzeit dramatischen Einschnitt in der deutschen Politik: „Es gibt einen Zusammenhang von geradezu tragischer geschichtlicher Dialektik: Die Wiederkehr eines gesamtdeutschen Parlaments nach Berlin und der kriegerische Konflikt um das Kosovo haben eine gemeinsame Ursache – das Ende des Kommunsimus“, sagte der Ostdeutsche. Doch sei die Rückkehr von Parlament und Regierung nach Berlin dennoch nicht die Rückkehr zu einer kriegführenden deutschen Politik. Es sei kein Rückfall in schlimmste deutsche Geschichte, formulierte er vor den Abgeordneten, deren Beifall er immer wieder erhielt. Wer so polemisch rede, der habe vom Epochenwechsel 89/90 nichts begriffen.
Bundeskanzler Schröder wünschte sich in seiner Regierungserklärung, die hinter den allgemeinen Erwartungen zurückblieb, daß „dieses Haus zu einem Sinnbild für Offenheit und Transparenz unserer demokratischen Politik“ werde. Doch Bonn ist Berlin, und Berlin ist Bonn, mögen sich einige Abgeordneten am Mittag gedacht haben. Auffällig lichteten sich wie sonst auch bei Plenardebatten die Reihen der Volksvertreter im Plenum, und viele schritten zum Mittagessen. Schon am ersten Tag der Berliner Republik kehrte business as usual ein.
Der umgebaute Reichstag, der von vielen Architekturkritikern überwiegend kritisch gewürdigt wird, kam bei den Abgeordneten hingegen gut an. Rezzo Schlauch, Fraktionschef von Bündnis 90/Die Grünen, hatte schon am Vortag bei einer ausführlichen Besichtigung des Baus dem größeren Lustgewinn im neuen Parlament das Wort geredet. „Mir gefällt das Helle, nach oben Gerichtete“, hatte er gesagt und, angetan mit Sonnenbrille, in den „Dom der Demokratie“ durch die gläserne Kuppel in den freien Himmel geblickt.
Eine Ellipse aus 360 Spiegeln in der Kuppel wirft direktes Tageslicht in den darunter liegenden Plenarsaal. Die Kuppel mit einer gegenläufig begehbaren Rampe ist der Öffentlichkeit auch in Zukunft zugänglich. „Das ist eine radikale Lösung“, sagte der international renommierte Architekt Sir Norman Foster. „Ein derartig öffentliches Parlament gibt es sonst nirgendwo auf der Welt.“ Es sei ein Ausweis der Demokratie, daß sich die Politik für diese Transparenz entschieden habe. In gleicher Weise wertete er die Entscheidung der Bundesbaugesellschaft und des Bundestages, ihn als Engländer mit dem Umbau des deutschen Parlaments zu beauftragen.
Die deutsche Geschichte und Vergangenheit jedenfalls sind nicht aus dem Gebäude verbannt. Die Inschriften der russischen Soldaten beim Einmarsch in Berlin in kyrillischer Schrift, die der Architekt erhalten hat, zeugen davon. Gleichwohl hängt auf jeder Etage ein Warnschild über das „Verhalten im Brandfall“.
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