: Verbindlichkeit statt hinter Gitterstäben
■ Justizsenator Körting (SPD) war einst für geschlossene Heime für kriminelle Jugendliche. Jetzt akzeptiert er die offenen Einrichtungen
uch Politiker sind lernfähig. Justizsenator Ehrhart Körting (SPD) hat davon Abstand genommen, ein geschlossenes Heim für kriminelle Kinder und Jugendliche zu fordern. „Wenn die bestehenden Projekte gut funktionieren, brauche ich über weitere Einrichtungen nicht nachzudenken“, sagte Körting im Gespräch mit der taz.
Im Dezember 1997 hatte der Justizsenator noch ganz anders gesprochen, als er sich – erst wenige Tage im Amt – für die Wiedereinführung von geschlossenen Erziehungseinrichtungen stark machte. Polizei und CDU klatschten Beifall. Erzieher und Sozialarbeiter dagegen glaubten nicht recht gehört zu haben, und die SPD-geführte Senatsjugendverwaltung schäumte über die Einmischung in ihr Ressort. Zeitungsberichte über die angeblich steigende Kinder- und Jugendkriminalität und der Fall des jungen Autoknackers Jasmin O. taten ein Übriges, das Thema monatelang am Kochen zu halten. Erst als der Bosnier im Juni 1998 abgeschoben wurde, trat an der Medienfront Ruhe ein.
Seither sind die bestehenden Hilfesysteme der Jugendarbeit verbessert und einige Neuerungen eingeführt worden. Ein geschlossenes Heim für delinquente Kinder oder Jugendliche, wie es Körting so undifferenziert gefordert hatte, wird es in absehbarer Zeit nicht geben.
Das letzte in der Stadt existierende geschlossene Erziehungsheim war das Haus Kieferngrund, das 1993 nach dem Inkrafttreten des neuen Kinder- und Jugendhilfegesetzes (KJHG) aufgrund eines Beschlusses des Abgeordnetenhauses dichtmachen mußte. In geschlossenen Einrichtungen wie dem Kieferngrund waren in Berlin über einen Zeitraum von vierzig Jahren straftatverdächtige Jugendliche per Gerichtsbeschluß zur Vermeidung von Untersuchungshaft untergebracht worden, weiß die Erziehungswissenschaftlerin Gabriele Bindel-Kögel.
An die Stelle des Kieferngrundes traten 1994 zwei Träger der Jugendhilfe, die Aktion 70 und das Jugendaufbauwerk (JAW), die ein bundesweit einmaliges Modellprojekt zur U-Haft-Vermeidung starteten.
Mit einem gerichtlichen Unterbringungsbeschluß versehene delinquente Jugendliche werden in Berlin seither in offenen Einrichtungen betreut. In anderen Bundesländern, mit Ausnahme von Frostenwalde in Brandenburg, gelangen solche Jugendlichen laut Bindel-Kögel zunächst in U-Haft, bevor sie nach Unterbringungsprüfung in andere Einrichtungen der Jugendhilfe kommen können.
Von 1994 bis heute haben Aktion 70 und JAW in ihren offenen Wohnprojekten über 400 Jugendliche zur U-Haft-Vermeidung betreut. Die Jugendlichen sind im Durchschnitt 15 bis 16 Jahre alt, haben überwiegend Gewalt-, Raub- oder Erpressungstaten verübt, und das meist mehrfach. 90 Prozent der Untergebrachten sind Jungen, 75 Prozent haben einen deutschen Paß.
Ob der Aufenthalt in dem Projekt Erfolg im Sinne einer Resozialisierung hat, ist nicht in Zahlen meßbar, weil die Unterbringung in der Regel nur zwei bis drei Monate bis zum Strafprozeß der Jugendlichen dauert. Fakt ist aber, daß in der kurzen Zeit entscheidende Weichen gestellt werden können. Das Verhältnis von Sozialarbeitern zu Jugendlichen ist fast eins zu eins. „Während die Jugendlichen in der U-Haft nur verwahrt werden, versuchen wir, mit ihnen eine persönliche Hilfeplanung und eine Perspektive zu erarbeiten“, sagt Norbert Stoll, Leiter der U-Haft-Vermeidung des JAW, das in Zehlendorf zwei Wohngemeinschaften mit ingesamt 12 Plätzen betreibt.
Daß die Jugendlichen jederzeit „die Mücke machen können“, weil die Türen offen sind, sei für die Arbeit ungemein wichtig. „Die Fachleute sind sich einig, daß man auf Jugendliche in offenen Einrichtungen bedeutend besser einwirken kann als in geschlossenen.“
Der Begriff Offenheit bedeutet aber nicht Beliebigkeit. „Es geht darum, den von Knast und Krise bedrohten Jugendlichen einen klaren Rahmen zu setzen“, sagt Roland Geiger, Geschäftsführer der Aktion 70. Die Aktion 70 eröffnet heute ein neues Wohnprojekt zur U-Haft-Vermeidug in Pankow mit elf Plätzen. Im Gegensatz zu dem Vorgängerprojekt in Neukölln kann in der neuen Einrichtung eine schulische und handwerkliche Förderung stattfinden. Außerdem gibt es in dem Haus eine therapeutische WG. Wie das JAW verfügt die Aktion 70 zudem über diverse externe Wohnprojekte.
Klare Regeln bestimmen den Alltag in den U-Haft-Vermeidungsprojekten: Ausgangszeiten und Urlaubszeiten werden strikt festgelegt, Schulbesuch oder Teilnahme an Lehrgängen sind Pflicht. „Rumhängen gibt es nicht“, sagt Stoll. Die Sanktionspalette reicht von der Ausgangssperre bis hin zum Antrag bei Gericht, den Unterbringungsbeschluß aufzuheben, was für den Betreffenden den Erlaß eines Haftbefehls und damit U-Haft zur Folge haben kann.
„Im Vordergrund steht die verbindliche Betreuungsarbeit in Abgrenzung zum Freiwilligkeitsansatz, der sonst die Jugendhilfe bestimmt“, betont Geiger.
Das war nicht immer so klar. Die Einsicht, daß die untergebrachten jugendlichen Straftäter fester an die Kandare genommen werden müssen als in der Vergangenheit, hatte sich bei den Projektmitarbeitern ungefähr zu dem Zeitpunkt durchgesetzt, als Körting mit seiner Forderung nach geschlossenen Heimen Furore machte. Den Ärger über den populistischen Vorstoß des Senators haben Geiger und Stoll zugunsten einer konstruktiven Arbeitsgruppe hinuntergeschluckt, in der sie zusammen mit Vertretern der Justiz- und Jugendverwaltung Kriterien für eine verbindliche Betreuungsarbeit in den U-Haft-Vermeidungsprojekten erarbeitet haben. „Seitdem ist auch die Kommunikation mit Staatsanwaltschaft und Gerichten besser geworden“, freut sich Geiger. „Die Justiz hat großes Interesse daran, daß die beiden Projekte weiter tätig sind“, ist Stolls Eindruck.
Auch Körting ist zufrieden. Die Forderung nach geschlossenen Heimen nimmt er – auch was die „winzige Zahl“ von Mehrfachtätern im Kindesalter angeht – nicht mehr in den Mund. Zum einen hat er in der Zwischenzeit offenbar eingesehen, daß er für die strafunmündigen unter 14jährigen nicht zuständig ist. Zum anderen ist er kürzlich mit dem Justizminister von Brandenburg, Hans-Georg Bräutigam (SPD), in die Uckermark gereist. Dort hat das Evangelischen Jugend- und Fürsorgewerk (EJF) im vergangenen Sommer nahe des Dorfes Petershagen ein bislang einzigartiges Bauernhofprojekt eröffnet, in dem strafunmündige Kinder auf die rechte Bahn zurückgeführt werden sollen. Sechs der insgesamt acht Plätze sind heute von Berliner Kindern belegt. „Die Einrichtung in der Diaspora inmitten graubrauner Äcker ist auch in meinen Augen eine echte Alternative zu einer geschlossenen Anstalt“, sagt Körting. „Vorausgesetzt, das Projekt funktioniert.“ Plutonia Plarre
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