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Von Erbfeindschaft keine Spur

Serbische HistorikerInnen mühen sich seit langem, eine kulturell und politisch gewachsene Feindschaft zwischen Albanern und Serben zu begründen – die angeblich schon seit dem frühen Mittelalter, seit der Schlacht auf dem Amselfeld (“Kosovo Polje“) währt. Die Fakten sprechen gegen diese These: Verfolgung im Kosovo war stets eine von muslimischen und anderen nichtchristlichen Bewohnern des Balkans  ■ Von Rüdiger Rossig

Kosovo Polje, das „Amselfeld“, am 15. Juni 1389: Ein Ritter liegt, aus vielen Wunden blutend, auf dem Boden, eine schöne Jungfrau gibt ihm den letzten Schluck zu trinken. Das kitschige Bild hängt – als Wandteppich, in Öl oder auch nur nachgedruckt – in vielen serbischen Häusern. So bleibt es immer in den Köpfen von Serben und Serbinnen präsent: als Kosovo-Mythos. Er gehört nicht nur, er ist der Kern der nationalen Identität Serbiens.

Hier, im Süden des früheren Jugoslawiens, spielt die wichtigste aller historischen Legenden Serbiens. Sie erzählt vom guten Kaiser Lazar, der auf dem Amselfeld das christliche Europa vor den muslimischen Türken bewahren wollte – und für dieses hehre Ziel sein Leben gab. Von klein auf wird den Serben über Märchen, die Schulen, Volkslieder und TV-Serien suggeriert, ihr Land sei infolge von Lazars Niederlage von den barbarischen türkischen Horden besetzt und dann für über fünfhundert Jahre unterdrückt worden.

Es gibt unzählige Epen, Lieder und Legenden über die Schlacht auf dem Kosovo Polje – die ernstzunehmende Geschichtsforschung dagegen weiß über dieses Ereignis recht wenig. Fest steht, daß Zar Lazar ein Heer gegen den osmanischen Sultan Murat aufgestellt hatte, wobei er von den meisten christlichen Adeligen der Region, aber auch von türkisch-muslimischen Landsknechten unterstützt wurde. Sicher ist auch, daß das christliche Heer die Schlacht verlor. Sowohl Lazar als auch Murat fielen.

Doch die Niederlage bedeutete nicht das Ende des alten Serbiens. Das Zentrum dieses mittelalterlichen Staates lag nämlich gar nicht im Kosovo, sondern im weiter westlichen Rascia, das heute Raca genannt wird. Dort übernahm nach Lazars Tod dessen vierzehnjähriger Sohn Stefan nominell die Regentschaft. Jahre später wurde er Vasall von Murats Sohn Bayezit – was aber nicht viel mehr bedeutete, als daß Serbien der „Hohen Pforte“, dem Osmanischen Reich von nun an tributpflichtig war.

Das Ende der unabhängigen serbischen Staatlichkeit besiegelte dreihundert Jahre später vielmehr eine österreichische Armee. Die unternahm 1689 einen Vorstoß gegen die Türken. Dabei drang sie über Raca bis ins Kosovo vor. Viele der dort lebenden Christen schlossen sich den Habsburger Truppen an. Als das kaiserliche Heer sich ein Jahr später überaschend zurückzog, flohen die Menschen aus Angst vor der Rache der Osmanen zu Tausenden mit. Die serbische Geschichtsschreibung nennt das „die große Flucht“.

Historische Tatsachen aber spielten für die serbische nationale Geschichtsforschung keine Rolle – ebensowenig wie die Tatsache, daß der Vergleich zwischen Türken und Albanern gleich in mehrerlei Hinsicht keinen Sinn macht. So sind bis heute viele Kosovo-Albaner nicht muslimisch; rund zehn Prozent von ihnen gehören zur römisch-katholischen Kirche. Zur Zeit des mittelalterlichen Reichs Serbiens waren sie gar alle Christen, zu einem großen Teil Orthodoxe – genau wie die Serben. An der sagenumwobenen Schlacht auf dem Amselfeld nahmen albanische Edelleute an der Seite Lazars gegen die Türken teil.

Die Flucht der christlichen Slawen dreihundert Jahre später hinterließ nach strikt serbischer Geschichtsinterpretation ein „Bevölkerungsvakuum“, in das die Albaner hineinstießen. Albanische Historiker halten dagegen, die Serben seien auf dem Amselfeld nie in der Mehrheit gewesen und zudem ja erst einige Jahrhunderte zuvor in die bisher illyrisch-albanischen Gebiete Südosteuropas vorgedrungen.

Die meisten Historiker, die nicht auf dem Balkan geboren wurden, gehen davon aus, daß die Albaner zu den ältesten Bevölkerungen auf dem alten Kontinent gehören. Linguistisch wurde nachgewiesen, daß viele Begriffe in der Sprache der heutigen „Shipetaren“ entweder von den Illyrern oder den alten Thrakiern stammen: Völkern, die der antike Geschichtsschreiber Herodot in Reiseberichten aus dem vierten Jahrhundert vor unserer Zeitrechnung erwähnt. Die slawischen Serben dagegen kamen erst nach Ende des weströmischen Kaiserreiches 476 n.Chr. nach Südosteuropa. Das Kosovo erreichten sie im Jahre 547. Beamte des oströmischen Kaisers Justinian berichten akribisch genau vom ersten Überfall der „Sklaveni“, der bis nach Durräs an der heutigen albanischen Mittelmeerküste ging. Die wilden Eindringlinge kamen, plünderten und zogen sich beim Auftauchen stärkerer byzantinischer Verbände wieder zurück.

Alle Quellen sind sich einig, daß in den folgenden Jahrhunderten viele Slawen auf dem Amselfeld zu siedeln begannen. Weniger Einigkeit herrscht über die Frage, welche Rolle sie dort spielten. So meinen die nationalalbanischen Historiker, die ersten Serben hätten ihren illyrischen Vorfahren als Bauern gedient; ihre serbischen Pendants halten die These von ihrem mittelalterlichen Reich mit seinem angeblichen Zentrum im Kosovo dagegen.

Tatsächlich sah die Geschichte nach Ansicht unabhängiger Historiker wie Noel Malcom aus Großbritannien etwas anders aus: Wie andernorts auch haben sich Serben, Albaner und die anderen Völker im Kosovo im Laufe der Jahrhunderte meist gut vertragen. Malcom verweist in seiner „Kurzen Geschichte des Kosovo“ gar auf Quellen, die bis ins vorige Jahrhundert einen hohen Vermischungsgrad zwischen illyrisch-dakischen und slawischen Stämmen und Familien nahelegen. Ähnliche Festtagsbräuche, traditionelle Gesetze oder Märchen belegen diese alten Verbindungen bis heute.

Doch Geschichte als Wissenschaft, als ein geordnetes Gebäude für gesichert erachtete Erkenntnisse interessiert auf dem Balkan nicht. Das historische Interesse am Kosovo fängt für die albanischen Staatshistoriker bei der Frage an, wer zuerst in der fruchtbaren Ebene gelebt hat. Dasselbe gilt für ihre Kollegen in Serbien. Es nimmt nicht wunder, wenn dieser Streit im Elfenbeinturm heute in die Frage mündet: Wem gehört das Kosovo?

An dieser Stelle des Konflikts hätten die internationalen Beobachter des Zerfalls Jugoslawiens schon vor Jahren aufmerksam werden müssen. Schließlich ist das Muster ja nicht unbekannt – das irre Beharren auf angeblich ererbtem Land hat Europa zwei Mal in diesem Jahrhundert in den Krieg gerissen. „Fünfzig Jahre Vertreibung – Schlesien bleibt unser“: In der alten Bundesrepublik hätte der Ton viele Menschen aufmerksam werden lassen; in Jugoslawien hat er niemaden gestört. Die UN, die EU, die OSZE, die Europäer: Sie alle haben die Geschichten der nationalen Historiker für Geschichte gehalten – und damit die Argumente der Kontrahenten für ihr jeweiliges „historisches Recht“ aufgewertet.

Dabei ist der „alte Haß“ zwischen Serben und Albanern fast noch konstruierter als die anderer „Erbfeindschaften“ in Europa. Beide Völker sehen sich in ihrer nationalen Geschichtsschreibung als Opfer der Türkenherrschaft. Die großen Vertreter beider Nationalbewegungen waren miteinander bekannt, bekämpften oft gemeinsam die türkischen „Besatzer“. Wer die historischen Serben und Albaner etwa der türkischen Zeit mit den heutigen Völkern gleichsetzt, unterschlägt, daß letztere ja erst durch ihre Nationalbewegungen entstanden sind. Die „Völker“ des Osmanischen Reiches, zumal diejenigen, die nicht oder nicht vollständig muslimisch wurden, standen damals zueinander in einem völlig anderen Verhältnis als ihre Namensvettern heute.

Bevor es zu einem Konflikt zwischen Serben und Albanern kommen konnte, mußte zumindest eines der beiden Völker zu einer nationalstaatlichen Form gefunden haben. Die Vergiftung der albanisch-serbischen Beziehungen begann somit auch nicht etwa 1389, sondern 1913. Damals drangen serbische Truppen in das bis dahin osmanische Kosovo ein und drangsalierten die muslimischen Bewohner. Die Diskriminierungen betrafen nicht etwa nur Albaner, sondern auch Türken und islamisierte Slawen. Viele Muslime verließen in den folgenden Jahren die Region in Richtung Türkei.

Obwohl den Siegermächten von Versailles 1918 diese Spannungen bekannt waren, wurde das Kosovo am Ende des Ersten Weltkrieges dem Königreich der Serben, Kroaten und Slowenen zugeschlagen, das später in Jugoslawien (“Südslawien“) umbenannt wurde. Die albanische Bevölkerungsmajorität wurde bei diesem Staatenpuzzle nicht gefragt.

Die in den frühen zwanziger Jahren einsetzende Kampagne Serbiens gegen alles Islamische richtete sich endgültig fast nur noch gegen Albaner, weil diese nun die absolute Mehrheit der Muslime im Kosovo stellen. Doch auch die Greueltaten der frühen zwanziger Jahre hinderten jugoslawische und albanische Partisanen nicht daran, im Zweiten Weltkrieg gemeinsam gegen die faschistischen Wehrmachtsbesatzer zu kämpfen.

Nach dem Bruch mit Moskau Ende der vierziger Jahre wütetete die Geheimpolizei von Marschall Josip Broz Tito auch im Kosovo. Opfer wurden jedoch nicht nur die albanischen, sondern alle Stalinisten. Es stimmt also: Die Albaner waren in Jugoslawien Bürger zweiter Klasse. Das gilt aber nicht weniger für andere Völker wie die Roma oder die slawischen Muslime. 1968 demonstrierten albanische und serbische Studenten Arm in Arm für mehr Demokratie – von Erbfeindschaft auch bei dieser Gelegenheit keine Spur.

Eskaliert sind die albanisch-serbischen Beziehungen unter Slobodan Milosevic in den achtziger Jahren. Seit seinem Amtsantritt als Chef der serbischen Kommunisten 1987 hat der heutige jugoslawische Präsident die albanische Minderheit im Lande systematisch zum Sündenbock aufgebaut. Mit Medienkampagnen wie der über die angeblich extrem hohe Vergewaltigungsrate bei Albanern, deren Opfer natürlich bevorzugt Serbinnen seien, hat das Milosevic-Regime die Kosovaren über Jahre hinweg diffamiert – und so immer mehr in die Rolle des mythischen, türkischen Erbfeindes gedrückt.

Mit der Geschichte des Kosovo hat das höchstens insofern zu tun, als diese unbekannt genug ist, um den nationalistischen Ideologen als Depot dienen zu können – für Munition, mit der sie durch Medien und Massenveranstaltungen sozial verunsicherten Menschen den Kopf verdrehen können.

Rüdiger Rossig kam im Herbst vorigen Jahres nach dreieinhalb Jahren bei der OSZE in Bosnien zurück nach Berlin. Er studiert Südosteuropawissenschaften und Geschichte und schreibt regelmäßig für die taz

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