Seltener Wahnsinn

Man kann zu diesem Produkt tanzen, nachdenken und es zu Hause nachmachen: Die CD „Zigaretten rauchen: Surplus“ ist anders, als man denkt, und kann im Maria erlebt werden  ■   Von Julia Schön

Warum raucht man Zigaretten? Weil man nichts Besseres zu tun hat. Man ist zum Beispiel arbeitslos. Oder man hat Arbeit und damit auch eine Zigarettenpause. Wie wichtig die ist, merkt man erst, wenn die Firma sie abschafft, indem sie sagt: Rauchen okay, aber nur jwd – außerhalb des Betriebsgeländes. Dafür geht man meilenweit, allerdings allein. Dann fällt auf, daß das Rauchen von Zigaretten Leute miteinander verbindet. Man trifft sich, um sich zum Beispiel darüber zu unterhalten, daß man zuviel raucht. Eine Zigarette läßt einen immer unbefriedigt, wußte schon Oscar Wilde. Man könnte fragen, warum. Und das Problem wälzen, wie ein besseres Leben auszusehen hätte.

So stellen sich das ein paar Berliner Künstler vor, die heute abend in der Flittchenbar im Maria am Ostbahnhof eine Release-Party geben, um ihre CD „Zigaretten rauchen: Surplus“ zu präsentieren. Sie glauben, Rauchen könnte die Welt beeinflussen. Wenn die Welt denn will. Zumindest hat die CD ihre Produzenten verändert. Sie haben gemerkt, daß Kunst nicht immer nur blöd in den Galerien und Museen herumhängen oder diktatorisch-referierend verbal erklärt werden muß, sondern tatsächlich Menschen dazu bewegen kann, ihrer eigenen Möglichkeiten gewahr zu werden. Wenn sie eine Chance bekommen.

Die Künstler haben es erfolgreich ausprobiert. 1996 auf der „Messe 2ok“ in Köln, der Gegenveranstaltung zum Mainstreamgeschäft der „Art de Cologne“, auf dem Berliner Anschluß-Event „Minus 96“, aus dem bundesweit die Initiativen der „Innenstadtaktionstage“ hervorgingen, und dann in der Berliner Burgstraße. Alles ganz einfach: Man beschafft sich einen Raum und eröffnet für drei, vier Tage das „microStudio“, dessen temporäre Existenz über Flyer und Tagespresse annonciert wird. Dort gibt es Videorekorder, Hallgeräte, Turntables, Laptops, die benutzen kann, wer will. Dem, der sich noch nicht traut, wird durch Schulungen, Diskussionen und Vorträge geholfen. Zu trinken gibt es und noch mehr zu reden und noch viel mehr zu dokumentieren. Auf der CD „Zigaretten rauchen: Surplus“ kann man sich die Produkte dieses Ansatzes anhören. Ein Wahnsinn seltenster Art, der fast 80 Minuten lang währt. Die gesamte CD wird restlos mit 43 anspielbaren Tracks von höchstens 3-Minuten-Dauer ausgefüllt, vollkommen LoFi aufgezeichnet und gleichberechtigt hintereinander weg versammelt. Zu primitivsten Loops und Samples aus House, Perez Prado, Kurt Cobain und Velvet Underground gibt es – gesungen oder gesprochen – Do-it-yourself-Texte der unterschiedlichsten Kategorien. Hausgeschnitzte Privatphilosophien gegen „die Arschlochwelt“ oder über die korrekte Luhmann-Rezeption erscheinen neben dem Grundschulärger kleiner Mädchen, den Planeten Klassenkampf putzende Salonsozialisten und Nachwuchs-Beatles treten an, knochentrockene Betriebspsychologie zu Ohrwürmern umzuarbeiten.

Alles, was uns Situationismus, Fluxus und Techno einst versprochen hatten und wir aus Schüchternheit nie einzufordern wagten, wird auf „Zigaretten rauchen“ vorbildlich Wirklichkeit: Die Idee, nicht nur produzieren, sondern das auch vermitteln und sogar zur direkten Anwendung bringen zu können, klappt ausnahmsweise. Hätte Joseph Beuys mit seinen Vorstellungen von der Wirkmächtigkeit der „Sozialen Plastik“, also von einer Kunst, die jeden angeht, nicht besser hinbekommen. Man kann zu diesem Produkt tanzen, nachdenken und vor allem: man kann es auch zu Hause nachmachen. Greatest Hits mit allereinfachsten Mitteln. Auf der persönlichen Ebene, die tatsächlich alle wiedererkennen. Das schöne daran ist die Ambivalenz des „microStudio“: Die Verantwortlichkeiten verschwimmen vollständig. Die Anbieter werden zu ihren eigenen Gästen. Wow – vernutzt geglaubte Wörter wie „Liedermachertum“, „Autonomie“ oder „Individualität“ darf man auf einmal doch wieder sagen, ohne das alle einschlafen. Der Trick ist der Sound: Obwohl „Zigaretten rauchen“ nur aus Musik besteht, ist es keine normale Musik-CD, sondern ein Buch, das lebt und klingt. Verlegt vom sehr empfehlenswerten Kreuzberger Buchladen „b-books“ mit ISBN-Nummer, wie es sich gehört.

Es gibt schon DJs, die einzelne Tracks remixt haben. Andere haben gesagt, das würde sich anhören wie Floh de Cologne. Alle aber wissen: Rauchen ist eine soziale Handlung. Also Kunst. Mehr ist allemal drin. Schaff dir dein „Surplus“ selbst oder bleib fad wie der Rest.

Zigaretten rauchen: Surplus (b-books records/ISBN 3-933557-05-4), Release-Party, 28. April, in der Flittchenbar, Maria am Ostbahnhof, um 22 Uhr