: Auf Kollisionskurs
Genosse Pirat und andere Loser: Im Osten reimt sich Arbeitsplatz vor allem auf Piratenschatz. Über die postmodernen Formen der ursprünglichen Akkumulation ■ Von Helmut Höge
Die Piraterie ist eine Form der ursprünglichen Akkumulation. Meist kennt man nur die gescheiterten Seeräuber, also die, die gefangengenommen oder getötet wurden. Unbekannt sind dagegen all die erfolgreichen Freibeuter geblieben, die mit ihrer Beute entkommen konnten – und normale Geschäftsleute wurden, denen also die ursprüngliche Akkumulation gelang. Der gescheiterte Westberliner Kaufhauserpresser Dagobert, Arno Funke, spricht in seiner Autobiographie von der gefährlichen „Schnittstelle“ – zwischen Polizei und Geldübergabe, der alle Aufmerksamkeit zu gelten habe.
Die Schnittstelle bei der See-piraterie ist eine doppelte: einmal – beim Entern – zwischen dem eigenen und dem fremden Schiff und dann beim Umrubeln der Kaperware an Land bzw. beim anschließenden Transfer der Gewinne in legale Geschäfte. Dergestalt sind die Freibeuter zwiefach gezwungen, sich an die Haupthandelsströme zu heften. Und demzufolge waren ihre Wirkungszentren nacheinander das Mittelmeer, die Karibik, die Nord- und Ostsee – und heute die Wasserstraßen zwischen Indonesien und den Philippinen.
Piraten müssen stets auf Kollisionskurs gehen! Hinter ihnen standen aber nicht selten ganze „Companies“ – d. h. seriöse große Kapitalgeber. Dies war besonders in Mittelamerika der Fall, wo es ein Pirat dann auch schaffte, ohne zu scheitern, berühmt zu werden: Henry Morgan, er wurde später Gouverneur von Jamaica. Die Liste der erfolgreichen Investoren in Kapergeschäfte ist lang. Sogar Voltaire beteiligte sich als Kapitalgeber an einer auf Sklavenraub und -handel spezialisierten „Company“.
Andersherum kaperte der kommunistische Hamburger Seemann Hermann Knüfken zusammen mit dem holländischen Arbeiter Jan Appel und dem Schriftsteller Franz Jung 1920 ein deutsches Schiff, um nach Rußland zu gelangen – zum 2. Kongreß der Komintern. Der Vorsitzende Lenin begrüßte Knüfken als „Genosse Pirat“. Wieder zurück in Deutschland nahm dieser alle Schuld auf sich und bekam fünf Jahre Knast. Wieder und wieder wurde auf KP-Demonstrationen in Hamburg die Freilassung des Volkshelden gefordert.
1945 entstand mit dem Zusammenbruch Deutschlands erneut eine der Piraterie günstige – unübersichtliche – Situation, besonders in der Ostzone. Hier waren es dann eine Frau Gnahb und ihr Sohn Otto, die mit einem Fischkutter den „Stückgutverkehr“ zwischen den schwarzen Märkten entlang der Ostsee besorgten. Wobei sie vor allem zwischen Swinemünde, Peenemünde und Rügen operierten – von den Russen geduldet. Es gibt sogar ein Shanty von und über diese „Königin der Ostsee-Piraten“. Es findet sich in Thomas Pynchons V2-Roman „Die Enden der Parabel“, auf Seite 777.
Auch nach dem Zusammenbruch des Sozialismus, 1991, blühte wieder der Schmuggel. Vier Jahre erforschte die polnische Ethnologin Malgorzata Irek den „Schmugglerzug Warschau – Berlin – Warschau“. Ihre hervorragende Arbeit erschien gerade im Berliner Verlag „Das arabische Buch“ (sic!). Bei dieser Form von Freibeuterei über Land geht es explizit um ursprüngliche Akkumulation.
Auch Menschen- bzw. Mädchenhandel gibt es nun wieder an dieser Schnittstelle (der Systeme), deren Wasserscheiden, Oder und Neiße, gerade zügig zur sichersten Grenze der Welt ausgebaut werden. 1993 wurden von Peenemünde aus 40 Kriegsschiffe der NVA nach Indonesien verkauft. Nach Protesten von Pazifisten mußte die Regierung Suharto sich verpflichten, sie in ihren Gewässern nur gegen Kriminelle, „Piraten und Schmuggler“, einzusetzen. Nach 1945 hatten dort – gegen Japan und Holland – die Indonesier selbst ihren Unabhängigkeitskampf erst einmal als Piraten und Schmuggler mit englischen Schiffen geführt.
Zurück in den Osten: Dort, am Fischerhafen Ralswiek, waren 1959 parallel zur „Bitterfelder Konferenz“ die „Rügenfestspiele“ gegründet worden. Ein „Bayreuth der Ostseeküste“ sollte daraus werden. Hanns Anselm Perten inszenierte nach einer Ballade von Kurt Barthel den Seeräuber Störtebeker als „Seher der Großen Oktoberrevolution“. Damit war bereits die Richtigkeit des Bitterfeldes Weges nachdrücklich beweiskräftig gemacht. In ähnlich präproletarische Richtung bewegten sich auch Willi Bredels Roman „Die Vitalienbrüder“ und der Mosaik-Comic „Auf Störtebekers Spuren“.
1981 fand die letzte DDR-Störtebeker-Inszenierung auf Rügen statt. Inzwischen war ein DDR-Kaskadeur namens Peter Hicks republikflüchtig geworden. Man hatte ihn jedoch an der Grenze geschnappt und verhaftet, woraufhin die BRD ihn freikaufte. Im Westen fand Hicks dann – als Bösewicht und Stuntman – einen Job bei den Karl-May-Festspielen in Bad Segeberg. Er arbeitete sich bis zum Intendanten hoch. Mit der Verpflichtung von Pierre Brice als Winnetou gelang ihm ein dauerhafter Publikumserfolg. Nach der Wende ging Hicks zurück in den Osten, wo er, unterstützt von einigen Kapitalgebern, die Störtebeker-Festspiele auf Rügen wiederbelebte. Hans-Dietrich Genscher verlieh ihm dafür den „Managerpreis 93“. „Wir waren streckenweise der größte Investor auf der Insel“, so Hicks 1995.
Damals hatte er bereits 24 Dauer- sowie 150 Saisonarbeitsplätze geschaffen. Als sein Hauptsponsor fungiert der japanische Autokonzern Nissan. Von den alten Störtebeker-Mimen übernahm Hicks nur – Burkhard Kurth. Der hatte zuletzt den „Chefideologen“ Magister Wigbold gespielt: „Das war der Kurt Hager von Störtebeker, Goedeke war der Haudegen Mielke und Störtebeker die Lichtgestalt – Honecker“.
Die damalige Inszenierung hatte jedoch „auch ihre Qualitäten“: So war z. B. in den Massenszenen mit über 1.000 Darstellern „mehr Dynamik drin“, und es gab mehr Koggen als jetzt, „die sich sogar untereinander beschossen“. Auch doppelt so viele Pferde, die Perten „jedoch immer nur von links nach rechts galoppieren ließ“. Statt Musik vom Band hatte man ein ganzes Symphonieorchester zu den „18 Arbeiterfestspielen“ verpflichtet, für das Abschlußfeuerwerk sorgte die NVA vom nahen Standort Prora. Perten hatte damals auch noch 80 Tänzerinnen angeheuert, sie werden von Kurth heute besonders vermißt.
Für die Störtebeker-Rolle verpflichtete Hicks jetzt den blondlockigen West-Mimen Norbert Braun. „Großartige Haltung, nur sprechen kann er schlecht“, nörgelte ein Kritiker in der Berliner Zeitung. Beim Publikum kommt Norbert Braun besser an. Als nordischer Typ von nebenan hat er sogar schon eine gewisse Vorbild- Funktion für die Rüganer Postkartenserie „Männliche Modelle auf Molen“ gewonnen, und ein von ihm ausgehender Naturfaser-„Seeräuber-Look“ hat streckenweise bereits – auf der nahen „Sail Saßnitz 94“ bspw. – die plastikbunten Freizeit-Fitneß-Verkleidungen der Männer verdrängt.
Wir entfernen uns mit der fortschreitenden Vermarktung des Events nur scheinbar von der Piraterie. Im Programmheft der Störtebeker-Festspiele schreibt die Pressesprecherin: „Norbert Braun hat im Tennis-Club Bergen eine passende Unterkunft gefunden. Schon im letzten Jahr hat er dort manches Match gewonnen. Für die Fahrt zu den Vorstellungen steigt er in seinen 144 PS starken Nissan Sunny GTI und sattelt dan auf 1 PS um – auf seinen geliebten Friesenhengst Eysbrand.“
Auf knappstem Raum haben wir hier alle tollen Dinge zusammen, um die es heute geht: eine Edelherberge, Tennisspiele, Sportwagen und Reitpferd, man könnte noch hinzufügen: Handy, Computer, Internet. Meine polnische Freundin Sonja arbeitet in einem Elektronik-Import-Export-Geschäft in der Kantstraße. Sie hat dort einen Tagesumsatz von 100.000 DM, es gibt allein in ihrer Gegend etwa 30 solcher Läden – für polnische Schmuggler. Andersherum: Wenn man nach Rügen fährt und sich dem Fischerdorf Ralswiek nähert, kommt man an immer mehr Loser-Kneipen vorbei, die „Störti“, „Zum Störtebeker“ oder „De Likedeelers“ (Gleichteiler) heißen, und ein in Stralsund gebrautes Bier namens „Störtebeker“ wird als „Bier der Gerechten“ beworben.
Im Klartext heißt das: Der mit der Zerstörung der Sowjetunion nach Osten ausgeweitete Freihandel hat alle möglichen Konsumgüter in greifbare Nähe gerückt, sie sind jedoch nicht mehr für jeden zu haben. Man muß sich etwas einfallen lassen! 1993 reimten der Lausitzer Baggerführer Gundermann und seine Band Seilschaft in einem Lied bereits „Piratenschatz“ auf „Arbeitsplatz“. Seit Beendigung der Privatisierungstätigkeit der Treuhand geht es aber nicht mehr um Arbeitsplätze, sondern um Immobilien. Beim Anschluß Ost wurde vor allem mit Abschreibungsmöglichkeiten, „Sonder-Afa“ genannt, operiert. Auch in Gundermanns Braunkohlerevier, das man in eine Lausitzer Seenplatte verwandeln will, geht es nur noch um kostbare Uferimmobilien.
Und in dieser Spannung zwischen den zumeist aus dem Westen stammenden neuen Grundstücksbesitzern und den arbeitslos gewordenen jungen Ostlern („Freedom is if there is nothing left to lose“, wie es in einem alten Neonazi-Lied heißt), baut sich nun ein neues Piraten-Phänomen auf. Bereits 1996 traf ich an der Mecklenburgischen Seenplatte die ersten Binnensee-Freibeuter. Die beiden Yacht-Besitzer orientierten sich äußerlich an „Miami Vice“, innerlich liebäugelten sie jedoch mit dem Verbrechen. Der eine hatte bereits zu DDR-Zeiten wegen „Arbeitsverweigerung“ im Knast gesessen, und der andere bekam noch heute ein Gänsehaut, wenn jemand in seiner Gegenwart von „ehrlicher Arbeit“ sprach. Beide lebten vom „Tschintschen“ in Ufernähe. Und ihre Gewinnspannen waren dabei an guten Tagen höher als die monatlichen ABM-Einkünfte der Saisonarbeitskräfte des Malchower Biergartens, wo ihre Yacht „Bounty“ an jenem Abend angelegt hatte.
Die postproletarischen Massen im Osten sind jedoch in der Mehrzahl nicht derart geschäftstüchtig d. h. erfolgreich. Sie müssen sich buchstäblich auf eigene Faust durchschlagen – dazu bilden sie Banden. Wobei die sozialistische Arbeitskluft mit westlicher Sportswear vertauscht wird: anfänglich meist Billigkopien der Markenware von Adidas, Puma, Nike, Fila, Reebock und Converse. Diese „Men in Sportswear“ sind die „Likedeeler“ von heute! Der Prenzlauer-Berg-Dichter Bert Papenfuß hat dazu bereits einige neue „Shantys“ gesampelt, außerdem schreibt er an einem aktualisierten Ostsee-Piraten-Zyklus. In seiner Zeitschrift Sklavenaufstand wurde darüber hinaus gerade eine Geschichte der Freibeuterei des englischen Anarchisten Hakim Bey abgedruckt. Kurzum: Was jetzt noch wie eine weithergeholte schweinische Klassenperspektive wirkt, wird uns in einigen Jahren schon so geläufig sein wie ein rechtsrheinisches Kavaliersdelikt: das Entern!
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