: Dat Jenseits snackt Platt
■ „De jüngste Dag“: Horvàth-Tournee auf Niederdeutsch
„Ach, deine Tochter seh ich ja sowieso dauernd“, plauscht eine junge Frau. Sie steht vor einer älteren, die bereits Platz genommen hat. Ja, hier kennt man sich noch. hier hat man noch Sehnsüchte, wie ein riesengroßes Photo der Skyline von Manhattan uns bedeutet. Die große weite Welt. Und schon in der ersten Szene wird klar, daß das alles irgendwie paßt. Eines aber ist anders als sonst, wenn die Speeldeel speelt. Nein, das gibt heute keinen echten Lacher, denke ich, und ein Bösebösegedanke schiebt sich ins Bild. Irgendwas mit einem nassen Lappen ins Gesicht. Klatsch!
Sowas passiert fast automatisch, wenn man, nun ja, aus der Metropole kommt. Hier reicht Bremen voll und ganz aus. Nun aber Psssst! und zugeschaut. „De jüngste dag“, heißt das Stück, ein spätes aus der Feder des Ödön von Horváth. Spätwerk, weil der Autor ein Jahr nach der Uraufführung 1937 im Alter von nur 38 Jahren in Paris von einem Ast erschlagen wurde. Ulf Lesle und Hans Peter Renz haben den Text ins Niederdeutsche übertragen, was mit jeder Szene mehr Sinn macht.
Der Text wird, wenn dieser billige Kalauer erlaubt ist, nicht plattgemacht. Im Gegenteil. Die skurrile Geschichte spielt in einem kleinen Ort, dessen Repertoire an Sehenswürdigkeiten sich in einer Bahnstation und einem Gasthaus erschöpft. Bestimmt gibt es hier kein Möbelhaus. Dafür kennt jeder jeden. Wie im richtigen Leben. Die Geschichte ist schnell erzählt: Der unerwartete Kuß der Wirtstochter Anna verwirrt den pflichtbewußten Stationsvorsteher Hudetz so sehr, daß er darüber die ganze Signalstellerei vergißt. So hat er 18 Menschenleben auf dem Kerbholz, an dem er im weiteren Verlauf schwer zu tragen hat.
Anna bemeineidet seine Unschuld, rettet ihn so vor dem Gefängnis. Da sich in dem kleinen Ort aber nichts so schnell verläuft, bricht alles auf, was aufbrechen kann. Die Menschen zerreißen sich die Mäuler, wahlweise über Anna, Hudetz oder über dessen ältere Frau. Alles, was die Kleinstbürgerhölle bisher verdeckte, gerät ins Wanken. Bis Mord, Selbstmord und Lynchversuch einem klarmachen, daß hier lange keine Ruhe einkehren wird.
Regisseur Armin Tacke läßt sich Zeit. Und das ist gut so. In langsamen, statischen Bildern entwickelt er den Kosmos von Schuld und Sühne. Kostüme und Gesten halten den Text in der ersten Jahrhunderthälfte. Tacke geht nicht den Weg direkter Vergegenwärtigung. Kann man machen. So bleibt der Stadt-Land-Gegensatz bestehen. Doch die Ereignisse führen in ihrer Brutalität eben jene vorläufige Erkenntnis ad absurdum, in der sich die Dörfler so gemütlich eingerichtet hatten. Daß alles böse von außen komme. Irgendwann sagt Annas Bräutigam, daß mit dem Kosmetikvertreter aus der ersten Szene der ganze Schlamassel begonnen hätte. Doch auch ihm schwant, daß solche Sätze als letzte Strohhalme, an die man sich klammert, wenig taugen.
Die Geschichte in Niederdeutsch zu erzählen, macht durchaus Sinn. Zumal Horváth selbst immer wieder auf Mundartliches zurückgegriffen hat. Sein neusachliches Volkstheater sollte von einfachen Menschen erzählen, dabei aber schonungslos und ohne Romantisierung. Ein Zug, der sich nicht wenig gegen die zeitgenössische Verklärung im Blut und Boden-Sinne richtete. Das Stück selbst ist zweisprachig angelegt. Immer wieder korrigieren sich die, die aus der Stadt kommen, von der Hochsprache ins Mundartliche; der Vertreter ebenso wie der mit der Untersuchung des Unglücks beauftragte Staatsanwalt.
Und auch eine andere Brechung zieht sich durch Tackes Inszenierung. Immer wieder wird das, was einem als Klischee des volkstümlichen Theaters im Kopf herumgeistert und was in der Tat richtig gruselig ist, zitiert. So erschafft Anke Mertens in der Verführungsszene die Anna als Provinz-Lulu. So heidikabelt Waltraut Bredfeldt die alte Frau, die ihr Fähnchen stets nach dem Dorfwind hängt, und führt ganz nebenbei vor, welch rassistische und sexistische Normalität mundartlichem Boulevardtheater sonst nicht selten innewohnt. Oft erinnert das an Kroetz, der nicht zufällig einer der Wiederentdecker Horváths war.
Irgendwann fragt man sich, warum diese Inszenierung nicht an einem 'normalen' Theater laufen kann. Gewiß werden hier keine großartigen Perspektiven entworfen, aber immerhin ist die Theatergeschichte der letzten Jahrzehnte nicht spurlos an diesem Ensemble vorübergegangen. Das beweist der monochrome und multifunktionale Bühnenraum, der, warum auch nicht, wie die Low-Budget-Ausgabe eines dieser hermetischen Gebilde aussieht, die Anna Viebrock jeder Marthaler-Inszenierung beisteuert. Vor allem aber das ruhige Spiel dieser Gemeinschaftsproduktion des Niederdeutschen Bühnenbundes Niedersachsen und Bremen. Nichts wird veralbert. Und mit zunehmender Spieldauer holt man einiges aus den Figuren heraus.
Allen voran Matthias Hobein als Stationsvorsteher, der sich stets über sein Pflichtbewußtsein zu definieren sucht, solange, bis das auch beim besten Willen nicht mehr klappt. Düster seine Treffen mit Anna im Wald. Noch düsterer, wenn ihm Tote aus dem jenseits erscheinen. Auch hier wird niederdeutsch gesprochen: Die ihn zum Selbstmord überreden, bzw. ihn davon abbringen wollen. Unter anderem Anna, die er in der Zwischenzeit ermordet hat; als Mitwisserin (und Auslöserin?) seines Schuldigwerdens. Alle reden von Gerechtigkeit, manche gar von Wahrheit, glauben tut das aber keiner. Eine kleine Hölle eben. Zum Schluß stellt er sich: „N freien Willen heb ick niemals nich hebbt.“
Danach nochmal Möbel geschaut. Ich zünde mir eine Zigarette an. Und irgendwie freut es mich, daß die, die nur hier ins Theater gehen, vorzugsweise für's Weihnachtsmärchen, heute nichts zu lachen gehabt haben. Dem plattdütschen Text zu folgen, ist entgegen der Erwartung gar kein Problem. Und Horváth ist klasse. Vielleicht geht Aktualisierung auch ohne Technoklamotten und Jugendsprache? Nämlich ganz leise.
Tim Schomacker
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