: Nachhaltige Kultur
Der Bericht der Weltkommission für Kultur und Entwicklung gibt eine neue Definition von Entwicklung ■ Von Dieter Kramer
„Entwicklung ... konnte nicht länger als ein einziger, überall gleicher und linearer Weg gelten, denn ein solches Modell müßte unvermeidlich die Faktoren kulturelle Vielfalt und kulturelles Experiment ausschalten und so das kreative Potential der Menschheit mit Blick auf das Erbe der Vergangenheit und die Unwägbarkeiten der Zukunft auf gefährliche Weise begrenzen.“ So Javier Pérez de Cuéllar im Bericht „Our Creative Diversity“ der Weltkommission für Kultur und Entwicklung.
Bei der deutschen Unesco-Kommission in Bonn ist kürzlich ein Buch erschienen mit dem Titel „Kultur und Entwicklung“. Es bezieht sich auf die „Umsetzung des Stockholmer Aktionsplanes“: Dieser „Stockholmer Aktionsplan“ entstand auf der Konferenz „The Power of Culture“ Anfang April 1998 in der schwedischen Hauptstadt. Diese Konferenz wiederum ist der erste Folgekongreß für den UN-Bericht „Our Creative Diversity“ der World Commission on Culture and Development (WCCD). Auf deutsch erschienen ist leider nur eine Kurzfassung des Berichts von der deutschen Unesco-Kommission.
Die Weltkommission tagt seit 1992 unter dem Vorsitz des früheren Generalsekretärs der Vereinten Nationen, Javier Pérez de Cuéllar, ohne nennenswerte Beteiligung deutscher Politiker oder Wissenschaftler.
Vielleicht erklärt sich daraus das geringe Echo auf den 1995 erschienenen Bericht dieser Kommission. Er ist in seiner Bedeutung jedoch durchaus vergleichbar mit dem Brundtland-Bericht, der etwa zehn Jahre zuvor die Diskussion um nachhaltige Entwicklung mit der Klimakonferenz von Rio und anderen Folgekonferenzen angestoßen hatte. Der Bericht fordert die Regierungen auf, mehr für die Kultur zu tun.
Auch der Stockholmer Aktionsplan betont auf der Ebene traditioneller institutionalisierter Kulturpolitik den Beitrag der Kultur für Toleranz und Entwicklung. Er sieht kulturelle Vielfalt nicht nur als konfliktproduzierenden Faktor, sondern als Bereicherung, und empfiehlt entsprechende Förderung: Ausreichende Finanzierung der Institutionen der Kultur, Erleichterung des Zuganges zu ihnen und Verbesserung der sozialen Lage der Künstler sind die klassischen Themen. Darauf kann Kulturpolitik sich berufen, wenn sie gebeutelt ist von den Sparzwängen, die der schlanke Staat ihr auferlegt.
Aber der Pérez-de-Cuéllar-Bericht bietet wesentlich mehr. Gestützt auf eine Menge von kulturwissenschaftlichem Sachverstand – Altmeister Claude Lévi-Strauss eingeschlossen – wird der Kultur insgesamt ein ganz neuer Stellenwert zugeschrieben. Zunächst werden kulturelle Faktoren im Zusammenhang mit „Entwicklung“ neu gewichtet: Sie werden nicht mehr nur berücksichtigt, weil in ihnen Hemmnisse oder Hilfsmittel für eine (materiell oder ökonomisch definierte) Entwicklung gesehen werden.
Kulturelle Vielfalt wird vielmehr, wie im Eingangszitat, als Ressource gewertet: Mit ihren unterschiedlichen Kulturen haben die Menschen im Verlauf der Geschichte jeweils spezifische Nischen der Lebenswelt besetzt, die nur oder am besten mit dieser jeweiligen Kultur und Lebensweise ausgefüllt werden können, bei anderer Lebensweise dagegen zerstört würden. Und dieses kreative Potential wird den Menschen angesichts der (nicht nur ökonomischen) „Unwägbarkeiten der Zukunft“ unentbehrlich sein: Kultur schafft Elastizität, weil sie auch ein anständiges Leben unter ganz anderen Bedingungen vorstellbar macht. Kultur wird dabei verstanden als das System der Werte und Standards, mit dem menschliche Gemeinschaften sich voneinander unterscheiden und worin sie die zentralen Elemente ihrer Lebensweise sehen. Die wahre Leistung einer Kultur, betont Claude Lévi-Strauss in seinem Beitrag für den Bericht, „besteht nicht in der Liste der Erfindungen, die von ihr gemacht wurden, sondern in ihrem Unterschied zu den anderen“. Kultur so zu verstehen, entspricht den Vorstellungen der Anthropologen. Für sie kann am Prozeß der „Enkulturation“ oder Sozialisation eine Individualität nur im Rahmen und in den Ausdrucksformen der spezifischen eigenen Kultur entwickelt werden.
Sie kennen freilich auch die Dialektik dieses Verhältnisses: Eine Gruppe, Kultur oder Gesellschaft ist auf Dauer nur überlebensfähig, wenn die Individuen sich als Individuen freiwillig und in Anerkennung der durch die Vergesellschaftung erbrachten positiven Beiträge für Sicherung und Qualität ihres individuellen Lebens zur Gemeinschaftlichkeit bekennen. Die „Akzeptanz“ muß gesichert sein. Und: Eine Gruppe bedarf kreativer Individuen, die sich mit veränderten Rahmenbedingungen auseinandersetzen, in ergebnisoffenen Suchbewegungen die Chancen neuer Möglichkeiten ausloten und schöpferisch Anregungen von außen empfangen können.
Kritiker werden vermerken, daß der Bericht die kulturelle Vielfalt mit der Artenvielfalt vergleicht und sich aus ähnlicher Interessenlage speist. Ihr Vorwurf: Biodiversität wurde nur deswegen beachtet, weil in ihr ökonomische Ressourcen vermutet werden. So zumindest ein geläufiger Vorwurf der Diskussion. Diese Diskussion auf den Kulturbegriff zu übertragen, wäre zu kurz gegriffen, denn Kultur wird in dem Bericht nicht nur als eine ökonomisch nutzbare Ressource betrachtet. Sie wird vielmehr Inhalt und Ziel (end and aim) von Entwicklung.
Das ist ein faszinierender Gedanke. Mit einem solchen Verständnis des Zusammenhanges von Kultur und Entwicklung müssen nicht mehr alle nach immer mehr vom Gleichen streben wie in den gängigen Vorstellungen, bei denen eine „Entwicklungshilfe“ den Fußkranken der Weltgeschichte hilft, allmählich auf das gleiche Niveau zu kommen wie die „Entwickelten“. Wobei immer großzügig übersehen wurde, daß ja der Abstand zwischen armen und reichen Regionen dabei nicht geringer wird, sondern allenfalls gleich bleibt, de facto aber größer wird. Wenn die je eigene Kultur Inhalt und Ziel von Entwicklung ist, dann können in jeder Gesellschaft die Standards des guten und richtigen Lebens und des Lebens in eigener Würde selbst definiert werden.
Die Bestimmung der Ziele und Inhalte solcher Entwicklung, so die Prämisse, werden unter Mitwirkung der Menschen definiert, also in einem demokratischen Prozeß und nicht als Entwicklung von oben. Auch nicht wie in vielen Gesellschaften geschehen als Zwangsmodernisierung. Damit wird die Bedürfnisentwicklung mit ihrer Dynamik eingebettet in einen kulturellen Kontext. Nur innerhalb dieses Kontextes kann jede Gesellschaft (unsere eingeschlossen) ihr sozialkulturelles Potential zu jener Selbstbegrenzung demokratisch selbst entwickeln, das für Nachhaltigkeit unverzichtbar ist.
Dabei bleiben offene Probleme: Es wäre den um ihre Privilegien und ihren Reichtum fürchtenden Angehörigen der Industriegesellschaften sicher eine Beruhigung, wenn andere mit kulturellem Stolz auf der eigenen, weniger ressourcenaufwendigen Lebensweise beharren würden. Daraus entstünde dann eine „globale Ständegesellschaft“ nicht nur der unterschiedlichen Geschwindigkeiten auf dem Weg zum gleichen Ziel, sondern man müßte sich auf das Miteinander dauerhaft ungleicher Partner einstellen oder zumindest solcher, die auf absehbare Zeit auf unterschiedlichen kulturellen und materiellen Niveaus koexistieren. Der Bericht macht auf eine zentrale Voraussetzung eines solchen Modells aufmerksam: Entwicklung unter Einschluß von materiellem Wachstum ist für viele Gesellschaften nichts, wofür oder wogegen man sich frei entscheiden könnte.
Angesichts von Bevölkerungswachstum und anderen offenen Problemen gilt für die armen Länder: „Entwicklung kann man nicht wählen, sie ist eine Notwendigkeit.“ Angedeutet wird, daß erst oberhalb eines Mindeststandards der Befriedigung von Grundbedürfnissen an die Akzeptanz materiell unterschiedlicher Entwicklungsbahnen gedacht werden kann.
Niemandem wird damit das Recht auf ein Leben in gesicherten materiellen Standards bestritten, aber es gibt Spielräume: „Wir wissen, daß Armut auch auf recht niedrigen Einkommensniveaus beseitigt werden kann, und daß hohe Durchschnittseinkommen keine Garantie gegen weitverbreitetes Elend sind.“ Wohlbefinden und materieller Wohlstand sind nicht gekoppelt.
Nicht legitimiert ist mit solchen Prinzipien freilich die exzessive Dynamik der Konsumgesellschaft des reichen Nordens. Sie steht dabei genauso zur Debatte wie die offensive Invasion der Märkte des Südens durch Marketing für Alltagskonsumgüter. Trendy den Konsum als angebliche Selbstverwirklichung zu feiern, das ist mit den Vorstellungen des WCCD-Berichtes nicht vereinbar – was nicht bedeutet, den lustvollen Genuß des eigenen Lebens durch Askese zu ersetzen: Der findet auch in anderen Sphären als denen des ressourcenaufwendigen Konsums statt.
Prof. Dr. Dieter Kramer ist Oberkustos am Museum für Völkerkunde in Frankfurt am Main und unterrichtet an der Universität Wien Europäische Ethnologie.Die Leistung von Kultur besteht nicht in der Liste der Erfindungen, sondern im Unterschied zu anderenEs bedarf kreativer Individuen, die sich mit veränderten Bedingungen auseinandersetzen
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