Schlager für Verschwörungsfanatiker

Fit for art: „und ab die Post 1999“, das 3. Festival junger experimenteller Kunst im Postfuhramt  ■   Von Jenni Zylka

„Wer das liest, ist Kunst“ haben die Künstler Marc Schmitz und Daniel Ginelli mit Kreide an grüne Schultafeln geschrieben, die ein kleines Klassenzimmer samt Tischchen und Stühlchen säumen. Verwunderlich ist bei dieser naßforschen Schnittmenge aus Andy Warhols „Jeder ist ein Künstler“ und denen, die des Lesens mächtig sind, daß der Raum und auch das auf einem Schreibtisch festgeklebte Schulheft (mit drei Hilfslinien!), in dem sich natürlich derselbe Satz in Schönschrift wiederfindet, von jeglichem Besuchervandalismus verschont geblieben scheinen. Nur ein frecher, vorlauter Gast (Abi 98?) hat mit Kuli ein „Kunst“ im Heft durchgestrichen und empört „doof“ darübergeschmiert. Lobenswerter Respekt vor der Kunst, Angst vor einem Klassenbucheintrag oder schlicht Desinteresse?

Die Rauminstallation der beiden jungen Künstler aus Berlin und Hamburg, die zusammen auch schon das weitaus interessantere „Ginelli Dump Art“-Konzept erstellt haben, ist unter den vielen verschiedenen Installationen, Skulpturen und Bildern bei „und ab die Post 1999!“ jedenfalls eine der wenigen interaktiven, auch wenn sich das „Aktive“ aufs Schulbankdrücken beschränkt.

Ziemlich die Post ab geht dagegen bei Christian Badels Experimentieranordnung „Die Wippe“: Im größten, höchsten und schönsten Raum des Postfuhramts, unter der Kuppel, hat der gebürtige Gothaer eine Riesenwippe gebaut, aus einem dicken, knarzenden Holzstamm mit roten Sitzen an jedem Ende, dazwischen aber eine hohe Wand. Wenn man oben ist, hat man endlich die Chance, das Gegenüber zu sehen: Oben in der Wand ist ein kleiner Monitor eingelassen, der den Wipp-Partner zeigt – wenn man Lust hat, ihn anzusehen, und nicht viel lieber den Blick über das unglaubliche Stuckwerk in die Höhen des Raumes schweifen lassen möchte. Ein sehr beschwingtes, im zwischenmenschlichen Bereich angesiedeltes Werk, denn „erst durch die Benutzung zweier Personen vervollständigt sich die Installation“. Auf jeden Fall auch etwas für simple Wippen-Fans.

Videokunst darf nicht fehlen bei einer 90er-Jahre-Sammelausstellung. Marion Schebesta zum Beispiel hat Hunderte von ARD-„Tagesschauen“ in Wörter, Silben und Phoneme zerstückelt und zu neuen Texten zusammengesetzt. Heraus kommt die sehr amüsante Rezitation von Udo Jürgens' „Und immer, immer wieder geht die Sonne auf“, einmal von Dagmar Berghoff gesprochen, dann von Wilhelm Wieben in den 70ern und in den 90ern. Eine ulkige Idee, ein bißchen wie von einem Verschwörungsfanatiker ersonnen, der beweisen will, daß ihm durch die „Tagesschau“ Geheiminformationen vermittelt werden. Aber dann kommt nur Schlager.

Bemerkenswert ist auch, daß das Wort „Liebe“ immer aus zwei Silben zusammengesetzt werden mußte: Was für eine Welt, in der dieses elementare Wort in 20 Jahren nie in den Nachrichten auftauchte?! Wiebke Maria Wachmann hat einen Raum in Weiß getaucht, in gleißendes, blendendes, überirdisch helles Weiß. In der Mitte scheint eine weiße Liege zu schweben – der richtige Ort für eine „Near Death Experience“ oder ein paar Stunden Folter. Komischerweise scheint die „visuelle Stille“ im Raum, die weiße Farbe, wirklich jeden Ton zu absorbieren; eine interessante, synästhetische Erfahrung.

Von der Stille zum Geschnatter: Blank & Jeron haben ein „Call Center“ installiert, man kann mehrere Telefone im Gebäude von außen anrufen. Die geführten Gespräche werden direkt ins Internet übertragen, unter http://come.to/callcenter kann der Verfassungsschutz dann die neue Idee abgukken. Einen ganzen Raum hat die kanadische Elektronikkünstlerin Laura Kikauka mit der ihr eigenen Ideen- und Objektvielfalt gestaltet und Hunderte kleiner glühender Lampen und putziger Elektrosetzkästen gesammelt und verbunden. Dann gibt es unter anderem noch die „fleischlichen“ Fotos von Karin Kerkmann, die im Computer gespiegelte, stark bis zur Unkenntlichkeit vergrößerte Körperteile zeigen und etwas an die „Was ist das?“-Fotos aus der Teenie-Zeitung erinnern. Passend dazu prangen im Raum nebenan rosahautfarbene Wachsskulpturen: Die „Untiere“ von Iris Schieferstein sind Abgüsse von toten Tieren, die die Künstlerin vorher zu mutantenähnlichen Gebilden zusammengenäht hat – schön eklig.

Und der Veranstalter „Aktionsgalerie“ hat GastkünstlerInnen aus Kiew und Jakarta eingeladen. Nur stellt sich bei dieser Kunst-Overdose bei den meisten Besuchern irgendwann der Jetzt-reicht's-Effekt ein. Aber dann kann man natürlich noch zur unvermeidlichen Disco Dance Party samt Electronic-Sound-DJs und bunter Diashow in der Bar im Erdgeschoß taumeln und sich dort herumstehenderweise neugierige Touristen und gelangweilte, angetrunkene KünstlerInnen angucken.

Bis zum 16. 5. im Postfuhramt, Oranienburger Str. Ecke Tucholskystr, Mitte. Di.–Do. 10–20 Uhr, Fr. u. Sa. 12–24 Uhr, So. 12–20 Uhr